Seit nunmehr über einem Jahr gilt die Weisung: «Hände schütteln vermeiden.» Seither verneigen wir uns vor Freunden, Verwandten und Bekannten nur noch in gebührendem Abstand. Eine seltsame Entwicklung, an die wir uns allmählich gewöhnen. Doch die Vernachlässigung des komplexesten menschlichen Körperteils ist nicht erst eine Folge der Corona-Pandemie, wie der deutsche Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch (69) in seiner kürzlich erschienenen Kulturgeschichte der Hände ausführt.
«Die Hand verliert das Ansehen, das sie in der frühen Neuzeit gewonnen und sich seither bewahrt hat», schreibt Hörisch, «wie schon ein kurzer Blick auf die Krise des Handwerkerberufs und die Handschrift verdeutlicht.» Die beiden verlieren im digitalen Zeitalter seit der Jahrtausendwende ständig an Bedeutung; ausgerechnet im digitalen Zeitalter, wie Hörisch betont. Denn das Wort «digital» hat seine Wurzeln im Lateinischen «digitus», was nichts anderes als Finger meint, von denen wir je fünf an jeder Hand haben.
Hände sind unsere Antennen oder, wie es der deutsche Schriftsteller Friedrich Schlegel (1772–1829) treffend formulierte, die «ersten und letzten Fühlhörner der Vernunft». Es ist denn auch die Epoche der Vernunft – die Aufklärung von 1720 bis 1800 –, die bei den Ausführungen des Germanisten Hörisch im Zentrum steht. Zwar thematisiert er auch die Raute von Angela Merkel (66), Maurizio Cattelans (60) Stinkefinger-Skulptur vor der Mailänder Börse oder die Hand Gottes von Diego Maradona (1960–2020), aber letztlich führt alles immer wieder zur Hand Goethes (1749–1832) und den Werken, die der damit schuf.
«Berühmt wurde Goethe in jungen Jahren mit einem Roman, dessen Ende ergreifend lakonisch davon berichtet, wie ein junger Mann Hand an sich legt, weil er keine Aussicht darauf hat, erfolgreich um die Hand einer geliebten Frau zu bitten.» Eine handliche Handlungsbeschreibung der «Leiden des jungen Werther» (1774), die Hörisch wohl leicht von der Hand ging. Man merkt: Der Mann ist im Element, wenn er von seinem Goethe schreibt. Und dann heisst dessen Hauptwerk erst noch «Faust» (1808/1832)!
«Faust trifft Hand», schreibt Hörisch und berichtet von der Szene, in der Faust dem Kentaur Chiron begegnet – das griechische Wort für Hand. Kentaur sind mythologische Figuren mit einem Pferdeunterleib und einem menschlichen Oberkörper. «Von den sechs Extremitäten eines Kentaurs werden aber – und dies sehr häufig – nur die Hufe erwähnt», steht im Buch zu lesen, «so als fehlten Chiron die Arme und Hände, auf die sein Name verweist.» Hörisch belegt damit eine frühe Vernachlässigung der Hand, weit vor den Corona-Jahren.
In Zeiten, in denen Hände als Dreckschleuder in Verruf geraten, ist diese Kulturgeschichte eine perfekte Reinwaschung. Beim Lesen erkennt man, wo die Hand überall ihre Finger im Spiel hat. Wenn aber Hörisch raunt, sie sei selbst im Nachnamen des österreichischen Dichters Peter Handke (78) drin, oder anmerkt, dass sich Immanuel Kant (1724–1804) auf Hand reime, dann möchte man ihm für solche überflüssigen Handspiele die rote Karte zeigen.
Jochen Hörisch, «Hände – eine Kulturgeschichte», Hanser