Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Diese Bauwerke trieben Architekte zur Verzweiflung

Wenn Schöpfer ihre ganze Lebensenergie in ihr Werk stecken, dann hauchen sie ihm einerseits Leben ein, andererseits sterben sie auch, wenn ihr Œuvre scheitert – eine existenzielle Beziehung.
Publiziert: 14.09.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2021 um 17:08 Uhr
Francesco Borromini, Erbauer der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane in Rom, auf der früheren Notenserie der Schweizerischen Nationalbank.
Foto: Sobli
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Ein mutiges Wort, ein beherzter Eingriff, eine kühne Tat: All das können Wagnisse sein – Handlungen, mit denen man sich einer gewissen Gefahr aussetzt, die unter Umständen auch tödlich enden können. So kann der Fehltritt beim Wandern über einen schmalen Berggrat das Leben kosten. Oder in manchen Ländern riskieren Menschen ihr Leben, wenn sie etwas Verbotenes sagen.

Wagnisse können aber auch Bauwerke sein, wie das die Belgierin Charlotte Van den Broeck (31) in ihrem neuen Buch exemplarisch darstellt. «13 tragische Bauwerke und ihre Schöpfer» handelt von einem im Morast versinkenden Hallenbad, von einem schiefen Kirchturm und von einer Kaserne für 2400 Soldaten mit bloss vier Schüsseln für die Notdurft. Die meisten der beschriebenen Architekten aus dem 17. bis 21. Jahrhundert trieb ihre Fehlplanung in den Selbstmord.

Zum Beispiel Eduard van der Nüll (1812–1868), österreichischer Architekt und Miterbauer der Wiener Staatsoper. «Ob die Oper wohl noch rechtzeitig fertig wird?», hiess es in Zeitungsrezensionen, und die Kritiker listeten Baumängel auf: Der Zuschauerraum sei zu klein, bloss die Hälfte der Bühne einsehbar, und je nach Sitzplatz könne man nur auf eine gute Akustik hoffen. Die Kritik ist zu viel für van der Nüll.

«Mit einem blauen Taschentuch erhängt sich Eduard van der Nüll an einem Garderobenhaken in seinem Schlafzimmer», schreibt Van den Broeck. Die gefeierte Lyrikerin bereiste alle 13 tragischen Schauplätze, redet mit Menschen vor Ort und lässt die toten Schöpfer und ihre Verzweiflung lebendig werden. Sie geht dabei der Frage nach, wann ein Versagen gross genug sei, um dafür zu sterben.

«Eigentlich lautet meine Frage: Wann wird ein Scheitern grösser als das Leben oder so allumfassend, dass das Leben selbst als gescheitert gelten muss?», so Van den Broeck. «Wo verläuft die Grenze zwischen Schöpfer und Werk?» Schwierig zu beantworten, denn im Kapitel über den Schweizer Francesco Borromini (1599–1667) schreibt sie: «Ein Werk ist in gewisser Weise immer von seinem Schöpfer durchdrungen.»

Mit der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane mitten in Rom baute der Tessiner Architekt ein Meisterwerk – und darin liegt die Tragik, die Borromini letztlich in den Selbstmord trieb. «Er sah, wie das Unvergleichliche unter seinen Händen Gestalt annahm», schreibt Van den Broeck. «Sein San Carlino wird als Inbegriff des römischen Barocks in die Geschichte eingehen, das kann ihm keiner nachmachen – auch er nicht.»

Scheitern wecke existenzielle Ängste, da es imstande sei, unsere ganze Art und Weise, wie wir von der Vergangenheit in die Zukunft fortschreiten, in Frage zu stellen. Vielleicht sei es aber auch eine Frage der Perspektive, so Van den Broeck. «Vielleicht werden im Selbstmord Vervollkommnung und Scheitern aufs Makaberste zur Deckung gebracht.»

Charlotte Van den Broeck, «Wagnisse – 13 tragische Bauwerke und ihre Schöpfer», Rowohlt

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