Einzeln sein – diese Erfahrung machte in den letzten Monaten wohl jede und jeder: Zu Hause im Homeoffice oder in den Zwangsferien während des Lockdowns waren wir auf uns selbst zurückgeworfen. Manche versuchten, sich selber zu verwirklichen, andere fühlten sich einsam. Und gleichzeitig verlangte die Gesellschaft von uns allen Solidarität ab. Denn auch in der Vereinzelung bleiben wir immer ein Teil des Gesamten.
«Einzeln sein» heisst das neue Buch des deutschen Philosophen Rüdiger Safranski (76). Ein Corona-Buch könnte man im ersten Moment vermuten. Doch Safranski, der in der Schweiz durch seine Auftritte in der SRF-Sendung «Literaturclub» bestens bekannt ist, schrieb keinen Ratgeber und fokussiert auch nicht auf die Einsamkeit, wie das Noreena Hertz (53) mit
«Das Zeitalter der Einsamkeit» und Diana Kinnert (30) mit «Die neue Einsamkeit» taten.
Einzelbeispiele rückt Safranski für «Einzeln sein» in den Mittelpunkt. Mit Biografien von Martin Luther (1483–1546) über Denis Diderot (1713–1784) bis Hannah Arendt (1906–1975) zeigt er exemplarisch auf, wie das Individuum in der westlichen Gesellschaft der Neuzeit an Bedeutung gewann – weit über ein Dutzend ganz unterschiedlicher Lebensläufe. «Es gibt so viele Arten, die Einzelheit zu erfahren, sie ausdrücklich zu bedenken und etwas daraus zu machen», schreibt Safranski.
Schon in der griechischen und teilweise der römischen Antike gibt es Raum und Ruhm für das Individuum und einen gewissen Personenkult. Danach verliert sich der Einzelne in religiösen Gemeinschaften. Safranski macht erst das 15. und 16. Jahrhundert als Wiedergeburtstermin des Individuums und einen «neu erwachten Sinn für den Einzelnen» aus: «In der Epoche der italienischen Renaissance, an der Schwelle zur Neuzeit, hatte sich diese starke Ichbezogenheit glanzvoll gezeigt», so Safranski. Der Weg für Genies wie Leonardo da Vinci (1452–1519) ist geebnet.
«Wer als Einzelner seine Eigenheit entdeckt und annimmt, möchte zwar sich selbst gehören, aber doch auch zugehörig bleiben», schreibt Safranski. «Diese Spannung bleibt.» Denn man könne die Vereinzelung unfreiwillig erleiden – etwa Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), der aus seiner Geburtsstadt Genf flüchten musste – und man kann sie freiwillig in Kauf nehmen im Kampf um seine Eigenheit – etwa Henry David Thoreau (1817–1862), der freiwillig in den Wäldern der US-Ostküste lebte.
Und wie sieht das heute aus? «Die digitale Kommunikation, die einerseits solche Singularisierungen begünstigt, verstärkt zugleich den Konformismus, und zwar als Folge des Vergleichszwangs in einer nie zuvor da gewesenen Systematik und Intensität», schreibt Safranski. Dieser Vergleichszwang begünstige zwar Wettbewerb und Konkurrenz und damit das Streben nach überbietender Originalität, doch es entstehe eben auch ein neuer Anpassungszwang.
Rüdiger Safranski, «Einzeln sein – eine philosophische Herausforderung», Hanser