Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Als der Rhein Richtung Quelle floss

Der Rhein fliesst stetig aus der Schweiz und ist mit 1232 Kilometern wohl der längste Auswanderer. Doch dieses Buch belegt Erstaunliches: Ursprünglich war er ein Einwanderer und floss aus Salzseen auf unser Gebiet.
Publiziert: 03.08.2021 um 12:36 Uhr
Der Rheinfall bei Schaffhausen.
Foto: schweiz tourismus
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Er entspringt in Graubünden, durchlebt seine Kindheit im Schoss des Bodensees, macht danach im jugendlichen Übermut einen Sprung bei Schaffhausen, kommt als starker Erwachsener in ruhigere Gewässer, widmet sich ab Basel beruflich der Schifffahrt und verlässt unser Land: Ja, die Geschichte des Rheins lässt sich wie ein Lebenslauf erzählen – 376 Kilometer lang ist er Schweizer, um dann Europa nordwärts zu durchfliessen, wo er nach 1232 Kilometern im Meer endet.

«Der Rhein – Biographie eines Flusses» nennt der deutsche Übersetzer und Herausgeber Hans Jürgen Balmes (63) sein kürzlich erschienenes Buch. «Als ich vor sechs Jahren begann, am Fluss zu wandern, hatte ich Kopien aus William Turners Skizzenbüchern von seiner Rheinreise im Rucksack und staunte, wie sehr die Landschaft auf seinen Blättern der sich vor mir ausbreitenden glich», schreibt Balmes. Kein Zufall, ist auf dem Buchvorsatz das Gemälde «Der Rheinfall bei Schaffhausen» (1845) des britischen Künstlers abgedruckt.

«Wir stehen vor einer Wand aus stürzendem Wasser», beschreibt Balmes den Rheinfall. «Weisse Gischt, ein Schäumen und Tosen. Die Fülle wirkt, als wären ganze Gletscher plötzlich flüssig geworden, als würde sich ihre über Jahrtausende angestaute Energie im Nu entladen.» Wie Turner die Poesie des Flusses mit Farben festhielt, so ergiesst sich bei Balmes ein Fluss poetischer Worte. Doch das Buch stirbt nicht in Schönheit, sondern lebt von fachkundigem Wissen aus Biologie, Geologie und Geschichte.

Nicht selten geht Balmes in die Zeit zurück, als Gletscher den Grossteil des Kontinents bedeckten. «Erst nach der letzten Eiszeit vor 8000 Jahren fand er zu dem Flussbett, wie wir es heute kennen», schreibt Balmes über den Rhein, dessen Namen übrigens vom indogermanischen Wort «rei» für «fliessen» herrühre. Fliesst er seither stoisch nordwärts, so war das lange zuvor anders. «Wie kam der Rhein zu seinen Quellen?», fragt Balmes rhetorisch und gibt gleich selber die Antwort: «Der Fluss wuchs ihnen bergauf entgegen.»

Unglaublich, aber wahr: Der Rhein begann nicht in den Schweizer Alpen. «Sein Anfang ist in der Mitte zu suchen», so Balmes, «und es waren keine Quellen, die einen Wasserlauf entstehen liessen, sondern die Absenkung eines Geländes, die ihn ermöglichte.» Vor 50 Millionen Jahren bildete sich der Oberrheingraben, in den sich von den Vogesen- und Schwarzwaldhängen Flüsse und Bäche ergossen – Süsswasserseen bildeten sich, die in trockenen Perioden versalzten und Richtung Schweiz flossen.

Was den Fluss schliesslich in sein heutiges nördlicher verlaufendes Bett drängte, sei nicht eindeutig zu klären. «War es eine Kombination aus einer Hebung des Höhenzugs bei Rheinhessen und einer weiteren Senkung des Oberrheingrabens?», fragt Balmes. Jedenfalls verschob sich das Quellgebiet kontinuierlich nach Südosten, bis es vor 2,6 Millionen Jahren das Alpenvorland südlich von Basel erreichte – und der Rhein kam zum Alpenwasser.

Hans Jürgen Balmes, «Der Rhein – Biographie eines Flusses», S. Fischer


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