Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Bubikopf macht aus Mädchen Frauen

Ungleichbehandlung wegen unterschiedlichem Aussehen: In den 1920er-Jahren wollten sich deutsche Frauen emanzipieren, indem sie sich optisch den Männern anglichen – ein Vorhaben, das die Nazis stoppten.
Publiziert: 17.08.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.08.2021 um 13:29 Uhr
Androgyne Frauen mit Bubikopf: Szene aus der TV-Serie «Babylon Berlin».
Foto: Sky
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Männlich, weiblich, divers – die Genderdiskussion hat in letzter Zeit weltweit viele Gebiete erfasst: In den USA eskaliert der Toilettenstreit um Türschilder mit der Aufschrift «All Gender», im deutschsprachigen Raum läuft eine heisse Diskussion um das Gendersternchen in gedruckten Texten, und in Argentinien entscheidet sich der Präsident Mitte Juli 2021 für ein X als Eintrag des dritten Geschlechts in Ausweispapieren.

«Bub oder Mädel?», ist eine deutsche Gedichtpostkarte um das Jahr 1930 betitelt, worauf mehr schlecht als recht gereimte Verse folgen: «Eins will in den Kopf nicht 'nein: / dass Ihr, als Meisterstück der Schöpfung, / dem Meister pfuscht in's Werk hinein / mit Eurer Bubiköpfung.» Direkt angesprochen sind Frauen, die sich in den goldenen 20er-Jahren die Haare kurz schneiden lassen. Denn bei den an die Macht drängenden Nazis gilt der Slogan: «Arisch ist der Zopf – jüdisch ist der Bubikopf.»

«Der Bubikopf – männlicher Blick, weiblicher Eigen-Sinn» heisst das Buch der deutschen Bibliothekarin und Autorin Helga Lüdtke (79), worin das vorangehende Gedicht zu finden ist. Haarklein zeigt sie darin auf, wie das Haupthaar der Frau schon vor gut hundert Jahren eine erste Genderdebatte auslöste: «Nicht die Bubikopf-Frisur an sich brachte die Gemüter derart auf, sondern das damit verbundene Bild der androgynen Frau mit einer schlanken, gradlinigen Silhouette und männlich konnotierten Kleidungsstücken.»

Der Coup à la Garçonne, zu Deutsch: Bubikopf, kommt in den 1920er in Paris auf. Wer ihn erfand, ist gemäss Lüdtke nicht zweifelsfrei zu eruieren, «zu viele Ereignisse können hier herangezogen werden, zu viele ‹Erfinder› rühmen sich der Tat». Zweifelsfrei ist aber die Absicht der Trägerinnen: «Der Bubikopf galt zahlreichen grossstädtischen Frauen der Zwischenkriegszeit als untrügliches und stolz getragenes Symbol von Modernität und Emanzipation», schreibt Lüdtke.

Berlin ist der Schmelztiegel, in dem sich diese Entwicklung zu jener Zeit besonders stark zeigt. «Berlin wurde auch jungen Frauen aus der Provinz und aus dem Ausland zu einem Versprechen, zu einem Sehnsuchtsort», so Lüdtke. Sie strömen in die vergleichsweise liberale, gesellschaftlich offene Hauptstadt, um die Enge der traditionsverhafteten Familie und verordneten Geschlechterrolle hinter sich zu lassen, um Neues auszuprobieren, um sich Arbeit zu suchen.

Frauen in Männerkleidern und Hosenrollen: Keine verkörpert das besser als die deutsch-amerikanische Schauspielerin Marlene Dietrich (1901–1992), die als laszive Lola Lola in «Der blaue Engel» (1930) Professor Rath verführt. «Hier zeigt sich eine aufschlussreiche Ambivalenz», schreibt Lüdtke: einerseits die öffentliche, gesellschaftlich weitgehend ablehnende Haltung gegenüber der androgynen Frau, andererseits die heimliche Verehrung, in der die erotische Komponente zum Tragen komme.

Helga Lüdtke, «Der Bubikopf – männlicher Blick, weiblicher Eigen-Sinn», Wallstein

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