Der heutige Nationalfeiertag der Türkei hat 35 Stunden, denn er begann bereits gestern um 13 Uhr: Cumhuriyet Bayramι heisst er in der Landessprache und feiert die Ausrufung der Republik durch Staatsgründer Kemal Atatürk (1881–1938) am 29. Oktober 1923; damit gibt es die Nachfolgenation des Osmanischen Reichs seit genau hundert Jahren. Atatürk richtete sein Land auf der Bruchlinie zwischen Europa und Asien konsequent nach Westen aus, verbot den Frauen das Kopftuch und übernahm 1926 das Schweizerische Zivilgesetzbuch.
«Das Bürgerliche Gesetzbuch der jungen Republik schaffte die Polygamie ab, gewährte Frauen das Recht, die Scheidung einzureichen, und sicherte Töchtern dasselbe Erbteil zu wie Söhnen», schreiben die beiden deutschen Türkei-Experten Günter Seufert (68) und Christopher Kubaseck (61) in ihrem gemeinsamen Buch. Und ziehen zum Jubiläum der Republik ein niederschmetterndes Fazit: So wie für Atatürk die Zeit der Osmanen endgültig vorbei sein musste, so müsse heute für Recep Tayyip Erdogan (69) die Zeit der kemalistischen Republik zu Ende gehen.
Als Beleg führen sie auf, wie der zwölfte Präsident der Türkei nach seiner Wiederwahl am 28. Mai 2023 für seine Siegesrede bis eine Minute nach Mitternacht wartete. Denn der 29. war der Tag, an dem vor 570 Jahren der osmanische Sultan Mehmet II. Konstantinopel einnahm, das heutige Istanbul. Die Massen jubelten Erdogan zu, die Massenmedien hat er in der Hand. Zu den wenig unabhängigen, aber unbedeutenden Zeitungen gehört die seit 1924 erscheinende «Cumhuriyet» («Republik»).
2015 schaffte sie es dennoch, den Präsidenten zu erzürnen: «Hier sind die Waffen, die Erdogan leugnet», lautete die Schlagzeile des damaligen Chefredaktors Can Dündar (62). Er zeigte im Artikel auf, dass der türkische Geheimdienst Waffen an islamistische Milizen in Syrien lieferte. Man machte ihm den Prozess, verurteilte Dündar zu mehreren Jahren Gefängnis. Er konnte aber noch nach Deutschland ausreisen und lebt heute mit seiner Frau im Berliner Exil – eben hat er ein Buch über «ein Jahrhundert Türkische Republik» veröffentlicht.
Aufgewachsen in Ankara, lebte Dündar auf dem asiatischen Teil Istanbuls und fuhr täglich über die Bosporusbrücke in die «Cumhuriyet»-Redaktion im europäischen Teil. «Diese tägliche interkontinentale Reise kam mir vor, als symbolisiere sie die hundertjährige Reise der Türkei», schreibt er. Das Land sei eine gigantische Schaukel, das zwischen Asien und Europa, Ost und West, Tradition und Moderne, Glaube und Verstand, Frömmigkeit und Laizismus hin und her kippe.
Der fromme Erdogan, dessen Ehefrau stets ein Kopftuch trägt, steht für Tradition; der republikanische Atatürk, dessen Gattin das Vorbild für «die neue türkische Frau» war, stand für die Moderne. Nach der Wiederwahl Erdogans telefoniert Dündar aus Berlin mit seiner Mutter in Ankara. Sie weint und sagt ihm: «Ich habe deine Lieblingsspeisen gekocht, dein Bett bezogen, was soll denn jetzt werden?»
«Abschied von Atatürk – die Krisen und Konflikte der Türkei», C. H. Beck
«Abschied von Atatürk – die Krisen und Konflikte der Türkei», C. H. Beck
«Die rissige Brücke über den Bosporus – ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen», Galiani
«Die rissige Brücke über den Bosporus – ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen», Galiani