Über den Drang zum Entrümpeln
Wider den Ordnungszwang

Eine ganze Industrie lebt davon, dass wir noch mehr kaufen, um das viele bereits Gekaufte in den Griff zu bekommen. Aber ist Ordnung überhaupt möglich und Chaos vermeidbar?
Publiziert: 25.04.2022 um 00:39 Uhr
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Aktualisiert: 25.04.2022 um 06:43 Uhr
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Die Japanerin Marie Kondo (37) hat das Aufräumen zum Kult gemacht.
Foto: Denise Crew/Netflix
Ursula von Arx

Der Frühling ist die Zeit des Neubeginns. Da hilft: entrümpeln. Wobei die Vorsilbe ent- bei uns ja schon länger und eigentlich zu jeder Jahreszeit hoch im Kurs steht, sie zieht entschlacken, entschleunigen, entspannen nach sich, ein Versprechen von Glück, von Leichtigkeit.

Aber wie schwer ist das Leichte. Entsprechend gibt es eine ganze Industrie – der Kapitalismus kann sich alles einverleiben –, die uns die Leere lehren will. Wir sollen – paradoxerweise – noch mehr kaufen, um das Zuviel an Besitz in den Griff zu kriegen.

Kennen Sie die stapelbaren Kleiderbügel, die den Schrank wie eine Machete zu durchforsten versprechen und den Dschungel in eine Oase der Ordnung verwandeln? Selbstverständlich gibt es spezielle Systeme auch für Schuhe, Schrauben, Bleistifte, Bücher. Es gibt Menschen, die sich als Ordnungscoach anbieten, damit das Chaos noch systematischer in Häufchen gereiht, in glänzende Plastikfächer gesperrt oder – zipp! – hinter einem Reissverschluss versenkt werden kann.

Einfach uns und alles retten

Doch das Chaos stellt einem hinter jeder Ecke nach, es schielt aus einem grauen Haaransatz, es klopft an die Tür mit der unerledigten Steuererklärung, es stiert einen an aus den Augen der Obdachlosen. Was tun?

Wo wir doch spätestens seit den Marie-Kondo-Bestsellern «Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert» und «Magic Cleaning: Wie Ihr Leben und Ihre Seele aufgeräumt bleiben» wissen, dass physischer Ballast immer auch emotionaler Ballast ist. Und nicht erst die Fridays-for-Future-Bewegung vergrösserte unseren Willen, unser Leben zu vereinfachen. Wollen wir doch nicht nur uns selbst, sondern den ganzen Planeten retten.

Volles Zimmer, volles Leben

Was für die einen gilt, muss nicht für alle gelten. Neubeginn muss nicht notwendig für einen Überdruss mit dem alten Ich stehen, er könnte auch eine neue Zufriedenheit ausdrücken: Ich habe alles, was ich brauche. Alles, was ich habe, brauche ich.

Ein Grund also, den angestrebt kühlen Minimalismus, die griffig-glatte Ordnung, die perfekte Organisiertheit zu relativieren: Ein vollgestelltes Zimmer kann auch ein Zeichen für ein volles Leben sein. Chaos kann kreativ machen. Beim Suchen findet man vielleicht nicht das Gesuchte, aber etwas Schöneres. Alles wird gut.

Ursula von Arx hat ein gesundes Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos gefunden. In den Zimmern herrscht Ordnung. In den Schränken und Schubladen das Chaos. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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