Haben Sie ja auch: Jedes Mal, wenn Sie eine andere Meinung äussern, teilen Sie Ihrem Freund mit, dass er nicht allwissend und nicht unfehlbar sei. Allem Anschein nach ist ihm die entsprechende Selbstwahrnehmung so wichtig, dass er jeglichen Hinweis auf eine andere Realität – oder besser: die Realität – als persönlichen Angriff erlebt. Und, da Sie ja enge Freunde sind, auch gleich als Verrat.
In seiner Vorstellung von Freundschaft herrscht offenbar permanente Harmonie. Das ist zwar rührend, öffnet aber das Tor zur Tyrannei, denn wer absolute Eintracht verlangt, zwingt sein Gegenüber, sich stets in einer gefälligen Weise zu verhalten. Bei Fehltritten wird dann sofort mit enttäuschter Aggression reagiert. Eine nicht sonderlich sympathische, aber effektive Art, seine Umwelt zu kontrollieren. Es ist den meisten nämlich sehr wichtig, den Menschen zu gefallen, die sie liebhaben.
Ihr Freund müsste sich mal Gedanken machen, woher sein Anspruch rührt, der Boss der Ansichten und der Stimmung zu sein. Dann würde er vermutlich erkennen, dass in seiner Kindheit etwas massiv schiefgelaufen ist und sein heutiges Verhalten nichts anderes ist als eine Überlebensstrategie von damals: «Ich muss dafür sorgen, dass die Menschen Angst haben vor mir, sonst missachten und verlassen sie mich» – so oder ähnlich könnte sein Glaubenssatz lauten.
Wir alle haben in unserer Kindheit Überlebensstrategien entwickelt, die uns im Erwachsenenleben aber gehörig behindern. Was könnte denn Ihre sein? Wieso sind Sie jemandem nahe, der Ihre Ansichten und damit Ihr ganzes Wesen nicht gelten lässt? Warum ist so jemand Ihr Freund? Sie ergänzen sich – aber worin genau? Und passt das wirklich noch zu Ihnen? Wollen Sie nicht lieber Freunde suchen, die neugierig werden, wenn Sie Ihre Meinung sagen, statt wütend?