Ich kannte ihn noch als Linken: Als wir beide Mitte der 1990er-Jahre für den «Tages-Anzeiger» arbeiteten, stand der ehemalige Trotzkist und frühere GSoA-Anhänger Markus Somm (56) der Sozialdemokratie nahe und fragte in einem Artikel: «Warum ist dieses Land so stabil? Gerade jetzt wäre es an der Zeit, die Geschichte des schweizerischen Sonderwegs zu schreiben.» Heute ist Somm FDP-Mitglied. Der freisinnigen «NZZ» war er allerdings zu rechts, um Chefredaktor zu werden.
«Warum die Schweiz reich geworden ist», formuliert Somm nun nicht mehr als Frage. Der Satz ist Titel seines kürzlich erschienenen Buches, das ebendiesen schweizerischen Sonderweg beschreibt. Genüsslich seziert er darin «junge linke Aktivisten», die wegen der letztjährigen Sklavenhandel-Vorwürfe an den Industriellen Alfred Escher (1819–1882) ein Strassenschild des Escher-Wyss-Platzes in Zürich mit dem Namen einer Bürgerrechtlerin überklebten. Doch da liege eine Verwechslung vor: «Der Gründer dieser einstigen Zürcher Weltfirma, Hans Caspar Escher (1775–1859), war zwar mit ihm verwandt», schreibt Somm, «aber so weit aussen, dass man Escher Wyss beim besten Willen nichts vorhalten konnte.»
Ja, messerscharf und blitzgescheit ist der promovierte Historiker Somm in seinen Gedanken, was immer man ihm sonst vorwerfen mag. Und diese Intelligenz zeigt sich auch in seinem neuen Buch. Denn mit Ausnahme dieses (berechtigten) Seitenhiebs gegen Linke ist der Ton sonst dezidiert sachlich und das Thema ohne ideologische Scheuklappen betrachtet. Somm richtet sein Augenmerk auf die Jahre 1500 bis 1830 und zeigt stringent auf, wie die Schweiz schon vor der Zeit von Sklavenhandel, Bankgeheimnis und Nazigold ein reiches Land war.
«Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiesen einzelne Gegenden der Schweiz einen so hohen wirtschaftlichen Entwicklungsstand auf, wie ihn in Europa nur wenige andere Regionen erreichten», schreibt Somm. «Export war König», so der heutige EU-Kritiker. Wenn es ein Land gebe, das zu den frühen Pionieren des Kapitalismus und der Globalisierung zähle, dann die Schweiz, der Aussenseiter und Sonderling unter den Nationen.
Seiden- und Baumwollstoffe sind es, die dem Land den frühen Reichtum bringen. «Hier stand eine der grössten vorindustriellen Textilbranchen Europas», so Somm. Und er zählt auf, dass 1787 im Kanton Zürich 50’000 Menschen in der Produktion von Baumwollstoffen tätigen sind – ein Drittel der dortigen Arbeitskräfte. Im Kanton Aargau sind es zu dieser Zeit gegen 40’000 Leute, und in den beiden Basel stehen über 2300 Webstühle. Auch Appenzell Ausserrhoden ist ein Schwerpunkt der Textilindustrie. «Nirgendwo aber war die Wirtschaft wohl stürmischer gewachsen als im Glarnerland», schreibt Somm weiter.
Zu verdanken hat die Schweiz diesen Aufschwung protestantischen Flüchtlingen aus Italien und Frankreich, den Hugenotten. «Ohne Reformation hätte die schweizerische Wirtschaftsgeschichte einen anderen Verlauf genommen», ist Somm überzeugt und schliesst daraus: «Vielleicht wäre das Land nie so reich geworden.»
Markus Somm, «Warum die Schweiz reich geworden ist – Mythen und Fakten eines Wirtschaftswunders», Stämpfli