Milena Moser
Was wichtig ist und was nicht

An diesem Tag war nichts so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Alles, was ich mir gewünscht hatte, war entweder verboten oder nicht möglich. Es war noch nicht einmal der Tag, den wir uns ausgesucht hatten. Und doch war er perfekt.
Publiziert: 16.05.2020 um 11:55 Uhr
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Aktualisiert: 21.05.2020 um 10:54 Uhr
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Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019
Milena Moser

Es war unser Hochzeitstag. Die City Hall in San Francisco hatte sich dazu durchgerungen, wenige «ausgesuchte» Paare mit «nachweislich dringlichen» Gründen nach den hier immer noch geltenden Lockdown-Regeln zu trauen. Und dazu gehörten wir nun mal. Das erfuhren wir aber erst am Abend vorher. Wir konnten also nicht einmal die bunt bestickten Masken abholen, die eine Freundin vorsorglich für uns hatte herstellen lassen. Wir durften auch niemanden mitbringen. Nicht einmal einen eigenen Füllfederhalter, um die Urkunde zu unterschreiben. Wir durften uns nicht unter der prachtvollen Kuppel fotografieren lassen und keinen Champagner einschmuggeln. Ein junger Mann mit Maske und Schutzschild führte uns in ein unscheinbares Büro.

«Bleibt auf der linken Seite des Tisches!», wurde uns beschieden. Diane, die Standesbeamtin, und ihre Zeugin blieben auf der anderen Seite. Immerhin war das Pult mit roten Papierschnipseln bestreut. «Statt Rosenblüten», sagte Diane. «Ein bisschen Romantik muss sein!»

Und romantisch war es trotz allem. Auch wenn die traditionellen Eheversprechen durch Maske und Schutzschild etwas vernuschelt klangen, lächelten und nickten wir in stillem Einverständnis: «For better, for worse, for richer, for poorer, in sickness and in health …» Das sind keine hypothetischen Zukunftsvisionen, das ist unser Leben. Unser gemeinsames Leben. Leider wurde der beste Teil den Schutzmassnahmen geopfert: «You may kiss the bride» auf zu Hause verlegt.

Keine zwanzig Minuten später standen wir schon wieder auf der Strasse. Auf dem Rücksitz hatten wir eine Wolldecke, eine Flasche Champagner und einen Schokoladekuchen verstaut, den ich am Tag zuvor gebacken hatte, weil das Rezept in der Zeitung versprochen hatte, der gelinge wirklich jedem. Wir wollten aus der Stadt fahren, über die Brücke und aufs Land hinaus, an einem stillen Ort die Decke ausbreiten und ein kleines Picknick veranstalten. Doch im Gegensatz zur Stadt, wo mich die Sorglosigkeit meiner Nachbarn oft verstört, die sich ungeniert in den Strassen, Parks und vor den Cafés versammeln, keine Masken tragen und allfällige Bussen als Lifestylespesen abbuchen, werden die Schutzmassnahmen auf dem Land strikt eingehalten. Jede Zufahrt zu einem Park oder Strand war weitläufig abgesperrt, selbst die Ausweichbuchten mit orangen Kegeln verstellt. Zusätzlich blinkten alle paar Kilometer Schilder auf, die vor Bussen bei Nichtbeachtung warnten. Ich ertappte mich bei Gedanken, wie sie wohl meine Nachbarn in der Stadt zu ihrem rücksichtslosen Verhalten motivieren: «Ach, nur schnell … nur einmal … Nur wir zwei!» Plötzlich verstand ich den Impuls. Aber man muss ja nicht jedem Impuls nachgeben.

Immerhin waren die Strassen leer, so dass wir langsam fahren und die Aussicht geniessen konnten, diese grossartige Landschaft, die uns umgibt. Wieder zu Hause, breiteten wir die Decke auf dem Wohnzimmerboden aus und schnitten den Kuchen an. Der Champagner war unterdessen warm geworden, aber der Kuchen, da hatte die Zeitung nicht gelogen, war gelungen.

Es war ein perfekter Tag. Der Beste.

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