Milena Moser
Übermut versus Vernunft

Während in der Schweiz die ersten Schritte zur Lockerung des Lockdowns in Kraft treten, wurde er hier in Kalifornien noch einmal um einen Monat verlängert. So sehr ich von der Notwendigkeit dieser Massnahme überzeugt bin, jetzt knirsche ich auch mit den Zähnen.
Publiziert: 02.05.2020 um 12:04 Uhr
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Aktualisiert: 15.05.2020 um 16:14 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019
Milena Moser

Bisher hat die reale Gefahr, der Victor ausgesetzt ist, meine persönlichen Enttäuschungen relativiert und mich vor Frust und Ungeduld geschützt. Sie ist auch der Grund, warum ich die Verlängerung dieser Massnahme, die ja ganz offensichtlich Wirkung zeigt, akzeptiere. Bis auf eine Ausnahme. Eine einzige, total egoistische und für das Gemeinwohl vollkommen irrelevante Ausnahme: Wenn man doch bitte die Standesämter wieder öffnen könnte! Heiraten ist doch auch ein Grundbedürfnis, hallo! Wenigstens für mich. Wir wollten nämlich am Donnerstag heiraten, vielen Dank.

Auch wenn die letzten Monate gnadenlos Blatt für Blatt von unserem ohnehin schon ganz einfachen Gänseblümchen von einem Plan abgezupft haben. Erst wurde der Flug meines Sohnes gestrichen, dann sagten die Gäste von auswärts ab. Victor denkt seit Wochen nicht mehr laut über das Menü nach, und den obligaten Coiffeurbesuch habe ich mir auch abgeschminkt. Trotzdem hielt ich bis zuletzt an der Vorstellung fest, dass wir beide unter der ebenso kitschigen wie feierlichen Kuppel der City Hall stehen und offiziell bestätigen, was wir schon lange wissen. Notfalls mit Maske und Handschuhen und im sicheren Abstand zum Standesbeamten und zu unserer Zeugin.

Was soll ich sagen, ich bin eine unverbesserliche Romantikerin.

Und als solche tröste ich mich auch schnell: mit dem Glück der anderen. Paare, die sich die amtliche Heiratslizenz bereits vor dem Lockdown ausstellen liessen, brauchen nämlich keinen Geistlichen und keinen Standesbeamten. Videotrauungen und Balkonzeremonien werden durchgeführt, ein Paar gibt sich das Jawort im Treppenhaus, von den Nachbarn aus den sicheren Türrahmen bejubelt. Seit dem Ausbruch der Pandemie wird in Amerika mehr geheiratet denn je. Von einem «wahren Hochzeitstsunami» spricht ein Standesbeamter, von «apokalyptischen Eheschliessungen» ein Soziologe. Je unberechenbarer und bedrohlicher die Umstände, desto grösser das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. «Das Einzige, was ich jetzt weiss, ist, dass ich mir dir zusammen sein will», sagt ein Bräutigam in einer Radiosendung. Der Rest geht in meinem Schneuzen unter.

Meine Lieblingsgeschichte ist aber die von Jeanine und Don aus Florida. Obwohl sie noch nicht einmal ein Jahr zusammen sind, war ihre Beziehung von Anfang an einfach und selbstverständlich. Beim ersten gemeinsamen Abendessen küssten sie sich schon. Sie lachen viel zusammen, sie haben dieselben Erfahrungen, dieselben Geschichten. «Wer weiss, wie viel Zeit wir zusammen haben», sagte Don ganz zu Anfang zu Jeanine. «Aber wir haben heute, also lass uns heute geniessen!» Der Ausbruch der Pandemie gab ihrer Verbindung mehr Verbindlichkeit. Sie redeten darüber, was passieren würde, wenn sich einer ansteckte. Gar im Krankenhaus landete. Und sie beschlossen zu heiraten. «Wir möchten füreinander da sein können», sagten sie. «Wir möchten offiziell füreinander zuständig sein.»

Don und Jeanine sind beide 91 Jahre alt.

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