Milena Moser über zufällige Begegnungen
Wie habt ihr euch kennengelernt?

In grossen Gruppen fühle ich mich nicht wohl, und Small Talk kann ich schon gar nicht. Ich hab eher die Neigung, mich ins nächste Fettnäpfchen zu stürzen. Aber einen Partytrick kann ich aus dem Ärmel schütteln: die Frage, die auch die angespannteste Stimmung aufhellt.
Publiziert: 01.08.2023 um 17:13 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Die Frage stelle ich keinesfalls nur Liebespaaren. Freundinnen, Hundebesitzer, Mitbewohner, zwei, die scheinbar zufällig nebeneinanderstehen: Sie alle haben eine Geschichte. Und sind meist nur zu gern bereit, diese auch zu teilen. Jede Beziehung beginnt irgendwo, meist ganz unspektakulär, im Büro, im Hauseingang, in der Schlange vor der Kaffeetheke. Unser Alltag ist voller zufälliger Begegnungen, aber damit aus diesen etwas entsteht, Liebe, Freundschaft, eine Wohngemeinschaft, eine Buchgruppe, muss mehr passieren. Die Gefragten müssen etwas ausholen, und während sie erzählen, wenden sie sich einander zu, unterbrechen sich gegenseitig, fahren mit den Händen durch die Luft, stossen sich gegenseitig in die Seite. Sie versetzen sich in der Zeit zurück, sie lachen, sie blinzeln gerührt.

«Wie habt ihr euch kennengelernt?»

In den letzten Wochen, in denen meine alten Freundinnen aus der Schweiz zu Besuch waren und sich mit meinen amerikanischen Freundinnen mischten, wurden wir, wurden sie das ständig gefragt. Auch unsere Antworten waren unspektakulär: im Kindergarten, in der Schule. Oder: Unsere Kinder besuchten dieselbe Schule.

Das ist aber nur die halbe Antwort. Unsere Leben kreuzen viele Leben. Wie Fäden verweben wir uns miteinander zu einem grossen Tuch. Warum knüpfen wir hier eine Beziehung und gleiten da aneinander vorbei? Warum sind manche Begegnungen der Beginn einer wunderbaren, lebenslangen Freundschaft und andere nur ein Augenblick, der mit einem Blinzeln schon vergessen ist?

Darüber kann ich endlos nachdenken, ohne eine gültige Antwort zu finden. Bei mir hat es, wenig überraschend, oft mit Büchern zu tun, mit einer geteilten Liebe zum Lesen.

Zum Beispiel sass ich einst an einem Quartierfest an einem langen Tisch und wartete auf etwas, ich glaube, es war ein Freiluftkonzert, das einfach nicht beginnen wollte. Da sagte die Frau, die mir gegenübersass, den schicksalhaften Satz: «Wenn ich denke, dass ich den neuen Kinky Friedman aufgeschlagen auf dem Bett liegen habe!»

Das Konzert war vergessen, ich beugte mich vor und packte sie am Arm: «Du hast den neuen Kinky Friedman? Auf den warte ich seit Wochen!»

Das ist über dreissig Jahre her. Die Kultkrimis sind heute vergriffen, aber unsere Freundschaft besteht noch.

Aber an der geteilten Leselust allein kann es nicht liegen. Vielleicht gibt es keine Antwort. Vielleicht ist es gerade das Unerklärliche, das Magische, das eine Begegnung zu einer Beziehung werden lässt. Freundschaft, Liebe, Gemeinschaft, Verbundenheit: Teil dieses Menschengewebes zu sein, ist ein Urbedürfnis, ist überlebenswichtig, ist ein grosses Glück. Vielleicht das grösste.

Das ist wohl auch der Grund, warum diese Frage so gern beantwortet wird. Weil sie uns daran erinnert, was für ein glücklicher Zufall das war. Dass wir an einem Abendessen wie vielen anderen einen Mann wie keinen anderen kennengelernt haben. Dass wir in einer neuen Schule neben ein Mädchen gesetzt wurden, das uns nach vierzig Jahren noch genau so wie damals zur Seite steht. Dass wir nicht die Einzigen sind, die an allen möglichen und unmöglichen Orten «Bücher für den Notfall» deponieren. Dass wir nicht allein sind.

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