Kurz nachdem ich mich zum ersten Mal in ein öffentliches Freibad in San Francisco gewagt hatte, flog ich in die Schweiz, wo es heiss war, richtig heiss. So wie ich es in San Francisco selten erlebe. So, dass man spätnachts noch draussen sitzen konnte, unter bunten Glühbirnenketten und einem riesigen, freundlichen, vollen Mond. Es war mein erster richtiger Schweizer Sommer seit neun Jahren, seit ich zum zweiten Mal ausgewandert bin. Irgendwie ergab es sich bisher immer, dass ich im März oder im November hier war, also nicht unbedingt zur freundlichsten Reisezeit. Doch hier war ich nun, bei schönstem Badiwetter, bereit, meine Theorie beziehungsweise meine Erinnerung, dass nämlich die öffentlichen Freibäder in der Schweiz sehr viel schöner, luxuriöser, sauberer sind, auch gleich zu überprüfen. Kurz zusammengefasst: Ja. So ist es. Meine Erinnerung war nicht verklärt.
Mit der ungezügelten Begeisterung der amerikanischen Touristin, die ich ja auch bin, lief ich barfuss über das noch vom Morgentau benetzte Gras. Ich zeigte mit dem Finger hierhin und dorthin, das glasklare, blaue Wasser! Die grosszügig bemessenen Bahnen! Die majestätischen alten Bäume! Die ansprechende Architektur (ich behauptete stur, Max Frisch habe sie entworfen, wurde aber eines Besseren belehrt). Der Stapel blauer Liegestühle, die man mit einem Zweifränkler auslösen kann wie einen Einkaufswagen! Oh, und Pommes!
Das Einzige, was in San Francisco besser war, war die singende Bademeisterin, und überhaupt die Stimmung. In der kurzen Zeit, in der ich mich in diesem Paradies auf Erden aufhielt, wurde ich mehrmals zurechtgewiesen. Und als ich meinen Liegestuhl zurückbringen wollte, sprangen gleich mehrere Frauen von ihren Tüchern und machten lautstark ihren Anspruch darauf geltend. Sie kämpften so erbittert darum, dass ich Angst bekam.
Zwei Tage später lernte ich den Köpfler, nur vom Ufer (der Aare) aus, aber immerhin. Geduldig und sachkundig angeleitet von meiner Quasi-Schwiegertochter Mirjam, einer ausgebildeten Pädagogin. Erst wollte ich nicht, ich sei zu alt, sagte ich. Meine Lieblingsausrede in letzter Zeit, obwohl ich sie eigentlich doof finde. Ich will doch nie aufhören, mich weiterzuentwickeln, mich infrage zu stellen, Neues auszuprobieren und zu lernen. Also stellte ich mich neben sie, beugte die Knie, streckte die Arme über den Kopf. Der erste Versuch fiel noch ein wenig zögerlich aus, doch schon beim zweiten Mal schaffte ich es. Ich schoss durchs grünliche Wasser wie eine launische Forelle, ich fühlte mich grossartig. Seither blöffe ich überall damit herum, stehe von jedem Esstisch auf, an den ich eingeladen bin, und strecke die Arme über den Kopf. Vor allem aber wiederhole ich die entscheidenden Worte, die Mirjam zu mir gesagt hat: «Es braucht etwas Überwindung. Es ist einfach ein komisches Gefühl, so kopfvoran ins Wasser einzutauchen.»
Ach, dachte ich, es ist also gar kein Hindernis, Angst zu haben? Denn natürlich war diese diffuse Angst immer der Grund gewesen, warum ich den Köpfler weder in der Schule gelernt noch später je versucht habe. Doch sobald diese Angst in Worte gefasst war, fiel sie in sich zusammen, als sei ihr die Luft abgelassen worden. Plötzlich war sie gar nicht mehr so gross. Ich konnte sie zusammenfalten und wegstecken, unter den Träger meines Badeanzugs. Und als ich dann ins Wasser eintauchte, muss sie herausgerutscht sein und sich aufgelöst haben.
Als Nächstes versuche ich's dann vom Böckli, im Freibad. Wenn ich meine Angst vor den Liegestuhljägerinnen ablegen kann.