Auf einen Blick
- Milena Moser kann ihrem Ehemann Victor zum ersten Mal nicht helfen
- Er kommt auch ohne ihre Unterstützung klar
- Milena Moser lernt dabei: Irgendjemand ist immer da, um zu helfen
Es ist die beste und die schwierigste, die intensivste und die beglückendste Woche des Jahres. Nie lerne ich so viel, und ich meine nicht nur das Bedienen der Kreissäge oder der Nagelpistole. Sondern auch, die Verzweiflung auszuhalten, die unweigerlich jedes Jahr einmal vorbeischaut, eine ungebetene und trotzdem verlässliche Besucherin. Sie lässt ihren Koffer fallen, stemmt die Fäuste in die Hüften, schaut sich im Atelier um und verkündet: «Das schafft ihr nie! Keine Chance!»
Ich kenne sie, sie besucht mich auch manchmal beim Schreiben. Aber während ich ihr da allein gegenübertrete, sind wir im Atelier immer viele. Wir erinnern einander daran, dass es noch immer gegangen ist. Wir beugen uns wieder über die Papierstreifen, die Gerüststäbe, und wenn wir das nächste Mal aufschauen, hat sie sich wieder verzogen, die Verzweiflung. Irgendwann müssen unsere Freundinnen, unsere freiwilligen Helfer gehen, Victor und ich arbeiten weiter. Manchmal falle ich nach einem solchen 14-Stunden-Tag todmüde ins Bett und denke: Was, wenn ich nicht da wäre? Wie würde er das schaffen? Jetzt weiss ich es: Prima!
Die erste Oktoberwoche war mir immer heilig. Kein Buch, kein Auftritt, kein Termin konnte sie stören. Aber dann wurde ich Grossmutter, und meine Prioritäten verschoben sich mit der Gewalt eines mittleren Erdbebens. So verpasse ich nun meine elfte Installation. Und ja, ich habe mir Sorgen gemacht. Wie soll das gehen, fragte ich mich. Gleichzeitig wurde mir meine masslose Selbstüberschätzung bewusst: Warum soll es ohne mich nicht gehen? Eine Bekannte, mit der ich kürzlich eine Parkbank teilte, nickte verständnisvoll: «Ich denke immer, wenn ich pensioniert werde, fällt die ganze Firma in sich zusammen wie ein Kartenhaus!» Wir lachten, aber ich denke weiter darüber nach: Ist das, was ich als Hilfsbereitschaft empfinde, in Wirklichkeit unerträgliche Arroganz?
Victor hingegen war wie immer zuversichtlich: «Irgendjemand hilft immer», sagte er. Irgendjemand hilft immer. Diesen Satz muss man einmal laut aussprechen. Und dann noch einmal: Irgendjemand hilft immer.
Woher nimmt er diese Gewissheit? Dieser Mann, der eine fürchterliche Kindheit, politische Verfolgung, Folter, den Verlust von allem, was er je besass, und den Tod seiner ersten grossen Liebe überlebt hat, nur um dann seit über 20 Jahren von immer neuen, schweren Krankheiten geplagt zu werden, dieser Mann glaubt unerschütterlich: Irgendjemand hilft immer.
Vielleicht, weil er diese Momente des Lichts sorgfältig sammelt und aufbewahrt. Zum Beispiel erinnert er sich nicht (wie ich) an die Nächte, die er in der Notaufnahme verbringen musste, weil auf der Abteilung kein Bett frei war. Nein, er erinnert sich an die Pflegefachfrau, die nach Ende ihrer Schicht noch so lange bei ihm blieb, bis das Bett gefunden war. «Ein Engel.»
Wir telefonieren jeden Tag. Ich verfolge die Fortschritte und die Rückschläge auf dem Handybildschirm, einmal sehe ich den Schatten der Verzweiflung im Atelier auftauchen, dann ist sie wieder weg. Ein Teil des Gerüstes wird in der Galerie beschädigt, ein Bildstreifen falsch herum befestigt. Da sind aber auch die Studenten, die unverhofft in der Galerie auftauchen, um zu helfen, eine Freundin nimmt einen Tag frei, ein Freund aus Arizona ist auf der Durchreise, es geht alles. Und auch wenn ich nicht dabei bin, lerne ich wieder etwas. Ich trage jetzt diesen Satz in mir: Irgendjemand hilft immer.