Milena Moser über das Vermissen von Enkelkindern
So schlimm ist es nicht

Manchmal reicht es, aus dem eigenen Leben zu erzählen, um andere, selbst Wildfremde, zu trösten. Zum Beispiel, wenn es um das Vermissen der Enkelkinder geht.
Publiziert: 02.09.2024 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 31.08.2024 um 14:28 Uhr
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Wenn Schriftstellerin Milena Moser (61) in San Francisco weilt, ist sie 10'000 Kilometer und elf Flugstunden von ihrem Enkelkind entfernt.
Foto: Patrick Tomasso / Unsplash
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Milena MoserSchriftstellerin

Meine letzte Reise nach Zürich war kurz, sie ist, während ich das schreibe, schon fast vorüber. Ich hatte diesmal auch keine Lesungen und keine Kurse, nur den Wunsch, meinen Enkel zu sehen. Obwohl der nächste, längere Besuch schon fest eingeplant ist, hielt ich es plötzlich nicht mehr aus.

Da bin ich nicht die Einzige. Ich habe das Glück, gleich mehrere ausgewanderte Grossmütter in meinem Umfeld zu haben, die mich mit ihren Erfahrungen trösten und unterstützen. Ja, das Vermissen und die Zerrissenheit, die werden jetzt gleich noch mal grösser, sagen sie. Viel grösser. Unverhältnismässig grösser. Aber sie sagen auch, dass es möglich ist. Aus der Ferne präsent zu sein. Eine Beziehung aufzubauen, auch wenn man sich zwischendurch wochen- und monatelang nicht sieht, nicht in den Arm nehmen, nicht abküssen und nicht in die Luft stemmen kann.

«Du musst flexibel sein», sagen sie. «Auch mal alles stehen und liegen lassen können.» Das sollte kein Problem sein. Die Schweizer Grossmutterfreundinnen sehen das anders. «Das könnte ich nie», sagen sie. Das ist ohnehin ein Satz, den ich oft höre. Ob es ums Auswandern generell geht, um die Liebe zu einem gesundheitlich Angeschlagenen, die Distanz zu den Liebsten. «Das könnte ich nie.» – «Musst du ja auch nicht.» Es gibt nun mal mehr als eine Art zu leben, zu lieben, miteinander verbunden zu sein. Das ist vielleicht das Wichtigste überhaupt, das ich in den letzten Jahren gelernt habe: Das Leben bietet meist mehr Möglichkeiten, als ich auf den ersten Blick erkenne. «Es ist okay, Mama», sagt mein jüngerer Sohn. «Ich hatte einen guten Lauf als jüngstes und herzigstes Familienmitglied. Aber ich mach mir keine Illusionen mehr, dass du meinetwegen in die Schweiz fliegst.»

Dann legt er einen Arm um meine Schulter und drückt zu und wir lachen beide. Die Liebe ist ja zum Glück nicht abgemessen und vorportioniert. «Hier ist ein Liter Liebe, der muss dir ein Leben lang reichen, also sei vorsichtig, verschütte sie nicht, sprüh sie nicht wahllos in die Menge!» Was für eine Vorstellung. Es ist ja genau umgekehrt. Je heftiger und ungezügelter man liebt, desto grösser wird das Herz. Es ist schliesslich ein Muskel, den man brauchen und trainieren muss wie jeden anderen auch. Ich habe hier einmal geschrieben, ich sei jetzt Mitglied eines Geheimklubs, des Klubs der geschmolzenen Herzen, der Grosseltern. Das bestätigt sich auch jetzt wieder. Wann immer ich mit dem Kleinen allein unterwegs bin, auf einer Wiese oder einer Parkbank sitze, gesellen sich andere Grossmütter zu mir.

Nie Mütter, immer Grossmütter, ab und zu auch ein Grossvater. Und weil Zürich irgendwann hinter meinem Rücken und ohne, dass ich es gemerkt hätte, eine internationale Stadt geworden ist, leben viele dieser Grosseltern auch woanders. «Es ist schon schwer», sagen sie. «So weit weg zu sein.» Sie leben in Basel oder in Barcelona, in Kopenhagen oder in einem kleinen Ort in Wales, dessen Namen ich mir nicht merken konnte. «Und du?» Wenn ich dann sage, San Francisco, 10'000 Kilometer, elf Flugstunden weit entfernt, dann erschrecken sie erst, bevor sich ihre Gesichter entspannen. «Puh!», sagen sie. «Na, so schlimm ist es bei uns nicht. Zum Glück!» Sie packen ihre Enkelkinder ein, die Spielsachen und Krabbeldecken und Wickeltaschen, und ziehen getröstet weiter. «Gern geschehen», murmle ich.

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