Die Zeiten sind nach wie vor lehrreich, auch wenn man sich eingestehen muss, dass der Stoff nicht immer neu ist und dieselben Lektionen wieder und wieder repetiert werden.
Jüngst etwa das Kapitel über die Korruption. Wie oft müssen wir es noch wiederholen? Die wichtigsten Lehrsätze haben wir doch längst begriffen. Der erste und wichtigste: Jeder Mensch ist bestechlich, und zwar unbesehen seiner politischen oder religiösen Überzeugung. So hinderte die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Deutschland den ehemaligen Aussenminister Deutschlands nicht daran, sich von der Fleischindustrie kaufen zu lassen. Als aktiver Politiker hatte er noch für ein Ende der Leihverträge und bessere Arbeitsbedingungen in den Betrieben gekämpft – heute ist das alles vergessen.
Dasselbe mit dem Genfer Staatsrat, der sich eine Reise in die Vereinigten Arabischen Emirate bezahlen liess. Dort traf er nach eigenen Angaben «rein zufällig» den Kronprinzen. Bei der späteren Befragung durch die Untersuchungsbehörden log er so lange, bis sich die Wahrheit nicht mehr verheimlichen liess. Weder die Prinzipen des Liberalismus noch ein freisinniges Parteibuch schützen gegen die Versuchung, sich von einer totalitären Diktatur bestechen zu lassen.
Auch in der Wirtschaft hält sich Korruption an keine Grenzen. Die Bündner Baubranche ist notorisch bestechlich. Das ist nichts Neues. Wir wissen es längst. Dazu hätte es die Meldung über das neuerliche Verfahren der Wettbewerbskommission wegen Submissionsabsprachen im Misox nicht gebraucht. Beton braucht Schmiergeld als Bindemittel.
Auch Engel in Weiss können dreckig arbeiten
Aber man hüte sich vor seinen Vorurteilen! Auf den Baustellen mag es ruppig zugehen, aber nur, weil jemand mit sauberen, sogar sterilen Händen arbeitet, bedeutet das nicht, dass er keine schmutzigen Geschäfte betreibt. Und oft lassen jene Engel in Weiss, die sich per Eid zum Dienst am Menschen verpflichtet haben, manchen korrupten Baumeister als Waisenknaben dastehen.
Das diesbezügliche Lehrmittel ist der Bericht der New Yorker Staatsanwaltschaft, südlicher Distrikt, die vergangene Woche eine Strafe von 345 Millionen Dollar gegen Novartis erwirkt hat.
Das Pharmaunternehmen bezahlte in den USA Tausende von Ärzten, damit diese ihren Patienten firmeneigene Medikamente verschrieben. Vehikel für die Korruption war ein fiktives Speaker-Programm. Die Mediziner wurden als Referenten eingeladen, aber Vorträge mussten sie natürlich keine halten. Das Gebaren nahm mitunter groteske Züge an. In Harrisburg, einer Kleinstadt in Pennsylvania, gab es fünf Ärzte, die während acht Jahren über 100 fiktive Veranstaltungen bestritten, manchmal fünf in einem einzigen Monat. Sie wechselten sich als Vortragende ab und strichen reihum die Honorare ein. Zusätzliches Publikum brauchten sie dabei nicht, vier hörten zu, einer redete und garnierte, das nächste Mal war der nächste dran.
Nein, so lernen wir, auch ein hippokratischer Eid schützt nicht vor Bestechlichkeit. Ein Kollege strich über die Jahre insgesamt 320’000 Dollar von Novartis ein. Im Gegenzug stellte er mehr als 8000 Rezepte des Basler Pharmariesen aus.
Fressen und saufen in den besten Lokalen
Und obwohl Novartis mit Medikamenten gegen Bluthochdruck und Diabetes auf den Markt drängte, fand man nichts daran, die korrupten Mediziner zu ungesunden Fress- und Saufgelagen in einige der besten Restaurants des Landes einzuladen. An einem Tag im Jahr 2008 verprassten die Gäste im Danton’s Gulf Coast am Montrose Boulevard in Houston, Texas, 680 Dollar – pro Person. Und dabei war das Danton’s zwar ein ordentliches Lokal, aber gewiss kein Luxusrestaurant. Die Bloody Mary gabs für 12.95 Dollar, und die Gumbo, die traditionelle Fischsuppe, kostete auch nicht mehr als 25 Dollar. Bei dieser Zeche mag man sich das Treiben an diesem Abend lieber nicht vorstellen, aber man versteht den Hinweis im Bericht der Staatsanwaltschaft, wenn es heisst, die Ärzte hätten exzessiv Alkohol konsumiert, «to the point of intoxication», oder auf Deutsch: bis zum Vollrausch.
Schliesslich machen es alle
Man fragt sich als Aussenstehender, wie Menschen in einem korrupten System ihr Tun vor dem inneren Richter, dem eigenen Gewissen rechtfertigen. Aber das ist eine naive Vorstellung. Denn dies ist ein weiterer Lehrsatz: Es gibt bei den Beteiligten in einem korrupten System oft kein Unrechtsbewusstsein. Die Bestechung wird stets mit denselben Argumenten verteidigt. Man macht nur, was alle machen. Das Verhalten der anderen ist noch viel schlimmer. So wurde das Geschäft schliesslich immer betrieben. Ich mache das nur einmal, es ist eine Ausnahme. Niemand wird geschädigt. Es ist für eine gute Sache. Und schliesslich machen es alle.
Vielleicht fand jenes Essen in Houston auch überhaupt nie statt. In einem Fall auf Long Island wurden vom Wirt nämlich fiktive Rechnungen ausgestellt, die von einem ebenfalls korrupten Vertreter an Novartis weitergereicht und vom Unternehmen anstandslos bezahlt wurden. Daraus folgt ein weiterer und entscheidender Lehrsatz: Korruption ist nur möglich in einer korrupten Kultur.
Bestechung funktioniert nur mit Komplizen
Damit Bestechung funktioniert, muss jeder bereit sein, die ihm zugewiesene Rolle zu spielen, und zwar nicht nur die Täter, die von der Bestechlichkeit direkt profitieren. Entscheidend ist am Ende die Komplizenschaft der Mitwissenden, also jene, die keine unmittelbaren Vorteile beziehen, aber gleichzeitig wenig Interesse haben, dass die Korruption auffliegt. So wird es auf beiden Seiten der korrupten Beziehung einen Buchhalter geben, der die bezahlten Honorare in der Erfolgsrechnung verstecken muss, einen Angestellten, der die zweifelhaften Termine ausmacht. Sie alle werden kein Interesse haben, dass ihre Chefs von der internen Aufsicht oder von der Strafverfolgung belangt werden. Schliesslich könnten auch sie ihren Job verlieren. Zwischen Täter und Mitwisser entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit. Und ist die korrupte Kultur erst einmal etabliert, braucht es in der Regel einen Whistleblower, der seine Existenz aufs Spiel setzt, damit die Sache auffliegt.
Was für die Täter gilt, gilt umso mehr für die Mitwisser. Die Strategien der Rechtfertigung greifen und werden irgendwann nicht mehr hinterfragt. Bei einem Unrecht, dass alle begehen, fühlt sich der Einzelne selten schuldig. Im Gegenteil: Wenn alle bestechlich sind, wäre es dumm und naiv, ehrlich bleiben zu wollen. Man würde damit gegen den informellen Gemeinschaftsvertrag verstossen und sich gegen die eigenen Interessen stellen. Und es gäbe schnell einen anderen, der den Platz einnehmen würde.
Als es im Zürcher Kantonsrat darum ging, für den Weltfussballverband Fifa eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit diese Gelddruckmaschine nicht mehr vom Privileg der Gemeinnützigkeit und dem liberalen Vereinsrecht profitieren konnte, fand die Mehrheit der Abgeordneten, es wäre dumm, eine solche Bestimmung zu erlassen. Erstens profitiere die Öffentlichkeit in nicht geringem Masse, und zweitens würde die Fifa bei einer Verschärfung der Kontrolle einfach den Standort wechseln. Und obwohl sich die internationale Öffentlichkeit seit langem fragt, aus welchen Gründen der schweizerische Bundesanwalt die geheimen Treffen mit dem Fifa-Boss nicht protokollierte, und warum genau die Strafuntersuchung verjährte und letztlich zu keinem Ergebnis führte, schien all dies die verantwortlichen Politiker kaum zu kümmern. Sie bestätigten den obersten Strafverfolger für eine weitere Amtszeit. Und die letzte parlamentarische Initiative, die den internationalen Sportverbänden die Privilegien auf Bundesebene entzogen hätte, wurde in der Rechtskommission des Nationalrats mit 17 zu 6 abgelehnt und schliesslich zurückgezogen. In der Schweiz haben Sportverbände nichts zu befürchten.
Und das wäre der letzte Lehrsatz, den wir bis zur nächsten Repetition auch gleich wieder vergessen können: Korruption findet immer Komplizen.