Wie unsicher eine Situation ist, entscheidet sich auch an ihrer Lesbarkeit. Wenn Doppeldeutigkeiten überhandnehmen und man sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass man Begriffe richtig entschlüsselt und den Sinn einer Aussage so versteht, wie er auch gemeint war, dann beginnt der Boden unter den Füssen rutschig zu werden. Gefühle der Unsicherheit, der Bedrohung und der Angst nehmen zu. Das gilt für den privaten, aber umso mehr für den öffentlichen Bereich.
Ende der vergangenen Woche erschien in der angesehenen Tageszeitung «The Washington Post» der Meinungsartikel eines gewissen Eugene Robinson. Der Journalist berichtet von seinen Erfahrungen als junger Korrespondent im Chile der Siebzigerjahre, als der Diktator Augusto Pinochet die Proteste gegen die Verlängerung seiner Amtszeit mit Gewalt unterdrückte. Und es sei vor allem eine Szene, so Robinson, die ihn heute an die leidvolle Zeit in Südamerika erinnere, jene vom Lafayette Square in Washington nämlich. Dort löste am Abend des vergangenen 2. Juni eine Hundertschaft Bundespolizei mit Gummigeschossen, Tränengas und Knüppeln eine Demonstration auf. Rund um das Weisse Haus hatten sich Menschen versammelt, um gegen den Tod von George Floyd zu protestieren, ein afroamerikanischer Familienvater aus Minneapolis, der ein paar Tage zuvor unter dem Knie eines weissen Polizisten erstickt war. Die Bilder seines qualvollen Sterbens hatte die Menschen weltweit auf die Strassen getrieben. Doch obwohl die Verfassung der Vereinigten Staaten die Versammlungsfreiheit ausdrücklich garantiert, obwohl die Menschen friedlich demonstrierten und die abendliche Ausgangssperre noch nicht angebrochen war, erteilte der Präsident den Befehl, die Gartenanlage Lafayette Square gewaltsam zu räumen und eine Bresche hinüber zur St. John's Church zu schlagen. Allerdings hatte Trump nicht die Absicht, in diesen schwierigen Zeiten beim Allmächtigen Beistand und Friede für die zerrissene Nation zu erbeten. Nein, er brauchte bloss ein paar wirkungsvolle Propagandabilder für den Wahlkampf. Und so sah man ihn wenig später etwas ungelenk vor dieser Kirche posieren, was an der Bibel liegen mochte, die er merkwürdigerweise wie eine Trophäe in die Höhe hielt. Es hatte ihm wohl niemand gesagt, dass der sachgemässe Umgang mit Büchern darin besteht, sie zu öffnen und zu lesen.
Der Pseudo-Pinochet und seine Junta
Jedenfalls war es diese Aktion, die im ganzen Land für Entsetzen sorgte, vor allem auch, weil Trump begleitet wurde von seinem Stabschef, der bei dieser Gelegenheit einen Kampfanzug trug. Die Kommentatoren stellten sich die Frage, ob die Armee im Fall der Fälle loyal zur Verfassung oder zum Präsidenten stehen würde. Eugene Robinson bezeichnete den Präsidenten deshalb einen «Möchtegern-Pinochet» und seine Entourage als «Möchtegern-Junta».
Man könnte seinen Artikel nur als weitere Stimme im Chor der empörten Bürger zur Kenntnis nehmen – wäre da eben nicht dieser Satz, dieses lateinische Motto, mit dem Robinson seine Analyse beschliesst. Letztlich habe Pinochet, so steht da, seine Absetzung und die Wiederrichtung der demokratischen Tradition trotz aller Gewalt nicht verhindern können. Und schliesslich: Sic semper tyrannis.
Das sind die letzten Worte dieses Artikels. Wer in der Schule kein Latein hatte, darf sich über den Service freuen, der heutzutage zum unverzichtbaren Angebot von Qualitätsmedien geworden ist. Zumindest in der digitalen Aussage der Zeitung ist die Phrase nämlich blau unterlegt. Wer sie mit dem Finger antippt, dem öffnet sich der entsprechende Artikel der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Dort erfährt man, dass dieses Zitat «So stehts den Tyrannen!» bedeute und ursprünglich dem römischen Senator Marcus Junius Brutus zugeschrieben wurde, einem der Verschwörer gegen Julius Cäsar.
Auch der Lincoln-Mörder sprach den Satz aus
Wer sich jetzt beunruhigt fragt, was Eugene Robinson mit dem Zitat eines erfolgreichen Tyrannenmörders gemeint haben könnte, wird leer schlucken, wenn er im Artikel weiterliest und erfährt, dass ein gewisser John Wilkes Booth diesen Spruch paraphrasiert habe, und zwar an jenem unglücklichen Aprilabend des Jahres 1865, als er im Ford-Theater Washington Abraham Lincoln erschoss, seines Zeichens der 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Nun würde man in einem anderen Kontext dieses Zitat als eindeutigen Hinweis verstehen, welches Schicksal Donald Trump erwarten könnte oder sogar sollte. Aber Eugene Robinson ist bisher nicht als gewaltbereiter Anarchist in Erscheinung getreten. Und seine Zeitung ist kein linksextremistisches Kampfblatt, «The Washington Post» ist eine der angesehensten Tageszeitungen weltweit. Robinson als einer ihrer Herausgeber ist darüber hinaus Pulitzer-Preisträger, gehörte selbst dem Preiskomitee an und präsidierte es sogar. Dieser Mann ist vielleicht ein kritischer Bürger, aber er ist ohne Zweifel eine Stütze der Gesellschaft. Es scheint kaum denkbar, dass er das Renommee seiner Zeitung benutzt, um verklausulierte Drohungen gegen den Präsidenten zu äussern. Oder doch? Das wäre ein Verstoss gegen Recht und Gesetz, und es wäre in dieser aufgeheizten Situation äusserst verantwortungslos. Nein, Eugene Robinson wird das Zitat nicht so gemeint haben – aber wie hat er es dann gemeint? Man forscht weiter, findet heraus, dass der Attentäter Timothy McVeigh bei seinem Attentat auf das Bundesverwaltungsgebäude in Oklahoma City im Juni 1995 ein T-Shirt mit dieser Aufschrift getragen haben soll. Damals kamen 168 Menschen ums Leben. Allerdings war dieser McVeigh ein Rechtsextremist, was nicht in Robinsons Metapher passt, da er sich gegen Rassismus positioniert. Die Rätsel werden grösser. Nach einer Weile der vergeblichen Exegese legt man den Artikel resigniert zur Seite. Man wird nicht abschliessend herausfinden, was der Autor gemeint haben könnte.
Es ist bei weitem nicht das einzige Beispiel für die zunehmende Sprachverwirrung, die unsere Gesellschaften erfasst hat, und es ist gewiss auch kein amerikanisches Phänomen. Man trifft es überall an, in deutschen, in französischen und auch in schweizerischen Publikationen. Die Ambivalenzen nehmen zu, sie werden mehr und mehr taktisch eingesetzt, um das Publikum zu verwirren, um Aussagen offenzuhalten, um den eigenen Anhängern codierte Nachrichten zu schicken, die nur sie selbst verstehen.
In der Politik sind Sprachspiele gefährlich
Es ist die Literatur, die mit den Bedeutungsunschärfen der Begriffe spielt, doch in der öffentlichen Sphäre, in der Sprache der Politik, haben diese Sprachspiele fatale Konsequenzen. Mit unklaren Begriffen wird auch die Wirklichkeit unsicher und umgekehrt. Es ist nicht nur die Verrohung der Sprache, die uns Sorge bereiten sollte, es ist ihre zunehmende Unverständlichkeit, sowohl Ursache wie Symptom einer Gesellschaft, deren Zusammenhalt sich mit erschreckender Geschwindigkeit auflöst.
Zuletzt erkannte man die Gefahren für die westlichen Demokratien vor allem in ihren äusseren Feinden. Russland unterminierte die Öffentlichkeit, China übernahm die Wirtschaft, und islamistische Terroristen verbreiteten mit ihren Attentaten ein Gefühl der ständigen Bedrohung. Jetzt wird deutlich, dass die Bedrohung zuerst von innen kommt und wir vor allem an den inneren Widersprüchen kranken. Obwohl viele Parameter in eine positive Richtung zeigen, die absolute Armut abgenommen hat, die Lebenserwartung steigt und die Kindersterblichkeit sinkt, erkennen die Menschen, wie wenig zukunftsfähig das herrschende Gesellschaftssystem ist. Die Menschen verzweifeln, weil sie begreifen, dass es diesem System an der inneren Kohärenz gebricht – an der Übereinstimmung zwischen Ideologie und Wirklichkeit.
Oder anders gesagt: Die Begriffe und die Wirklichkeit haben kaum mehr etwas miteinander zu tun. So ist die freie Marktwirtschaft nicht frei, und die Gleichheit steht in unserer Verfassung nur noch als toter Buchstabe. Der kategorische Imperativ gilt längst nicht mehr. Es sind vor allem zwei Phänomene, die sich weiter verschärfen und ohne Systembruch offensichtlich nicht oder jedenfalls nicht schnell genug gelöst werden können: die soziale Ungerechtigkeit und die Zerstörung der natürlichen Ressourcen.
Einziger Garant für Sicherheit: der absolute Herrscher
In einem bipolaren Weltsystem konnte sich der Westen damit rechtfertigen, er sei trotz aller Probleme der Hüter der Freiheit, das letzte Bollwerk gegen den sowjetischen Totalitarismus. Diese Legitimation ist vor dreissig Jahren weggefallen, aber es ist bis heute nicht gelungen, unsere Demokratien von innen neu zu beleben. In einer Welt, in der unter dem Signum der Wettbewerbsfähigkeit der Kampf aller gegen alle zum letzten verbindlichen Wert geworden ist, ist es folgerichtig, wenn viele Bürger von ihrem Staat nichts als Ruhe und Ordnung verlangen. Sie glauben an keine andere Verbindlichkeit mehr, sie besitzen kein anderes Interesse als das eigene Überleben und erwarten von ihrer Autorität, was Thomas Hobbes in seinem «Leviathan» unter dem Eindruck des Bürgerkriegs vom absolutistischen Herrscher verlangte: die totale Herrschaft als einziger Garant für Ruhe und Sicherheit. Das ist das faule Versprechen, das Trump seinen Wählern gibt. Er wird es nicht halten können. Denn Ruhe ist nicht dasselbe wie Frieden. Das ist der Grund für den Widerstand, der sich weltweit regt. Es ist der Aufstand gegen die Diskrepanz zwischen den Worten und den Begriffen, es ist der Aufstand gegen den latenten Bürgerkrieg, der Kampf der Besitzenden gegen die Besitzlosen. Darin liegt die Macht der Bilder von der Ermordung George Floyds. Jeder versteht und sieht das Unrecht und erkennt den Rassismus: ein Afroamerikaner, der in Todesangst nach seiner Mutter schreit, ein Weisser, der auf ihm kniet und ihm die Luft zum Leben nimmt. Dieses Bild braucht keine Interpretation. Es steht für die Welt, in der wir leben.