Lukas Bärfuss über die Schweiz in der Corona-Krise
Wir sind zurück im geistigen Réduit

In der Schweiz wird kritisches Denken in der Krise für unpatriotisch erklärt. Geistige Landes­verteidigung reloaded. Dabei sind Fragen derzeit umso wichtiger – denn von den Antworten hängt das Wohl künftiger Generationen ab.
Publiziert: 04.04.2020 um 15:08 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2020 um 13:02 Uhr
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Autor Lukas Bärfuss hält der Schweizer Polit- und Wirtschaftselite den Spiegel vor.
Foto: Philippe Rossier
Lukas Bärfuss

In Zeiten wie diesen ist Vertrauen eine entscheidende Ressource. Ein Teil der Öffentlichkeit besinnt sich deshalb auf bewährte Strategien und hat sich bereits vor Wochen ins geistige Réduit zurückgezogen. Hat schliesslich schon das letzte Mal funktioniert. Menschlich ist das verständlich. Man fürchtet den Zusammenbruch der Ordnung durch die zersetzende Wirkung einer sogenannten Systemkritik. Kritisches und eigenständiges Denken ist ein Luxus, mit dem sich Zivilisten in normalen Zeiten die Langeweile vertreiben können. Etwas für den Sandkasten. Jetzt aber braucht es die ordnende Kraft einfacher und schlagkräftiger Konzepte. Führung und Gehorsam zum Beispiel. Unnötige Fragen verunsichern die Bevölkerung nur zusätzlich. Sicher, später wird es Gelegenheit zur Aufarbeitung geben. Wann genau? Im Frühsommer, so der zuständige Experte im Bundesamt für Gesundheit, dann werde das Schlimmste ausgestanden sein.

Im Frühsommer! Sehr gut! Das dauert nicht mehr lange! Schon bald wird die kritische Öffentlichkeit wieder erwachen und schonungslos die richtigen, die schmerzhaften Fragen stellen dürfen. So wie sie das immer getan hat und wie wir uns das von ihr gewohnt sind.

Auf zur Rettung des Vaterlands

Aber jetzt ist keine Zeit dafür. Jetzt muss das Vaterland gerettet werden. Bis in den Frühsommer gibt es keine unterschiedlichen Interessen oder Meinungen, auch keine Parteien, es gibt nur noch das Wohl des Landes. Gezänk wäre unpatriotisch und kontraproduktiv. Freiwillig überlässt der verantwortungsvolle Bürger das Ruder seines Staatsschiffes nun den Experten, also jenen, die im Gegensatz zu uns ahnungslosen Laien etwas von der Sache verstehen. Und die Sache, das ist zuerst die Wirtschaft. Und wer versteht am meisten von dieser Materie? Natürlich die Bankiers. Der Beweis? Sie wissen, wie man die höchsten Boni kassiert. Wenn sie das Heil der bedrohten helvetischen Ökonomie nicht garantieren können, wer dann? Nur Verräter an der nationalen Sendung stellen die Frage, wo sich die Koryphäen der Finanzindustrie ihr Fachwissen in der Wahrung des Gemeinwohls erarbeitet haben. Jeder muss wissen, dass es vielfältige Qualitäten braucht, um sich bis in die Direktion einer Grossbank zu boxen, bei weitem nicht nur das Talent zur Profitmaximierung. Zwar fallen uns diese Qualitäten gerade jetzt nicht ein, aber im Frühsommer werden wir uns gewiss auch wieder daran erinnern.

Nur Idioten stellen solche Fragen

Hat da jemand Eigennutz geflüstert? Ein perfider, ein lästerlicher Gedanke! Wie viel Prozent Zins verlangen die Geldhäuser für diese Kredite? Nullkommanullgarnichts! Ist das kein Beweis für den Gemeinsinn, der in schwierigen Zeiten das Land vereint? Wer da die Frage stellt, wer am Ende das Risiko für die Kreditausfälle übernimmt, der beweist zweierlei: erstens seine ökonomische Ahnungslosigkeit und zweitens seine unpatriotische Gesinnung.

Bis in den Frühsommer stellen nur Idioten die Frage, mit welchem Recht Unternehmen, die während Jahrzehnten Milliarden an Aktionäre und Management verteilt haben, nun zum Staat rennen, damit er mittels Kurzarbeitsentschädigung die Gehälter der Angestellten übernimmt.

Und nur unverbesserliche Kryptokommunisten stellen sich die Frage, warum weiterhin Entlassungen ausgesprochen werden und die Regierung keinen Kündigungsstopp erlassen hat. Auch Freistellungen geschehen aus reinem Patriotismus, aus der Sorge um das Gemeinwohl.

Und was antwortet der Eidgenosse dem berühmt gewordenen Coiffeurmeister, wenn er sich in einer schlaflosen Nacht fragen sollte, warum er in all den sogenannt fetten Jahren zwar täglich zwölf Stunden in seinem Laden gestanden, es aber trotzdem nicht gelungen ist, auch nur die kleinsten Reserven zu bilden, die ihm jetzt durch diese Krise helfen würden? Wir alle antworten ihm zwar föderal vielstimmig, aber eben trotzdem im Chor: Verzage nicht! Es gibt diese Reserven natürlich! Einfach nicht bei euch Coiffeurmeistern. Auch hier hat die freundeidgenössische Solidarität funktioniert. Die Grossgrundbesitzer haben dir die schändliche Geldhamsterei abgenommen, bei ihnen liegt der schöne Notvorrat!

Verschulden, um die Schulden zu begleichen!

Nein, bis in den Frühsommer soll sich kein Figaro an die Immobilienpreisentwicklung der letzten Jahre erinnern. Die Charts ähneln zu sehr jenen der Fallzahlen. Das schlägt nur aufs Gemüt und könnte ihn daran hindern, sich seiner patriotischen Pflicht zu verweigern und nicht zu seiner Hausbank zu rennen. Er soll jetzt nicht denken, er soll sich verschulden. Damit er auch in den nächsten Jahren seine saftige Miete bezahlen kann, für die Liegenschaft, die zu einem Gutteil der Bank gehört, die ihm diesen Kredit gewährt.

Und falls der arme Mann wegen Überarbeitung und Herzinfarkt nicht bezahlen kann? Dann wird die Allgemeinheit für den Ausfall einstehen. Genial! Patriotisch ist, wenn die Banken ihr Geld bekommen. Das versteht der Coiffeurmeister nicht? Natürlich nicht! Wie auch? Er ist ein Frisör! Wie soll einer wie er etwas von den komplexen wirtschaftlichen Zusammenhängen verstehen? Er schneidet Haare, herrjeh!

Man sollte das Denken den Pferden überlassen, die haben die grösseren Köpfe. Und vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, warum der Direktor des Bundesamtes für Gesundheit und die Kommissionspräsidentin ihre Einleitung zum Pandemieplan im Jahr 2018 mit der Formel «Viel Vergnügen» unterschrieben haben. Im Frühsommer werden wir hoffentlich auch dafür eine Erklärung bekommen.

Erst wirtschaftliche Normalität, dann die Gesundheit

Und auch, auf welchen Wegen die Herren Wirtschafts- und Finanzminister zur Entscheidung gekommen sind, dass wir so schnell wie möglich zur wirtschaftlichen Normalität zurückkehren sollten – natürlich, wie sie betonen, unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Aspekte. Aber eben in dieser Reihenfolge. Unter Berücksichtigung. Eines nach dem anderen. In welchen Gremien die Bundesräte diese Fragen über Leben und Tod wohl diskutiert haben? Welche Argumente wurden abgewogen? Und mit wem? Mir ihren Priestern? Im Namen Gottes des Allmächtigen, mit der rechten Hand auf der Bundesverfassung? Gibt es Ethiker im Finanzdepartement? Oder hat man das auch gleich mit den Bankiers erörtert? Und was man dort wohl unter Normalität verstehen könnte? Diese dummen, ignoranten Fragen.

Trotz aller geistigen Landesverteidigung reloaded soll es immer noch ein paar Unverbesserliche geben, die der Meinung sind, es sei nicht Sabotage, auf das Loch im Feuerwehrschlauch hinzuweisen, es sei vielmehr ein Akt der Verantwortung.

Und es gibt auch noch solche, die meinen, dass die Krise vielleicht akut, die Bedrohung für unsere Risikogesellschaft allerdings chronisch sei.

Wir stellen nur noch profitable Güter her

Und es gibt ferner immer noch ein paar Naive, die sich allen Ernstes die Frage stellen, warum es dieser globalisierten Wirtschaft zwar gelingt, die profitablen, nicht aber die notwendigen Güter- und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Und was wir an diesem System ändern müssten, um dies möglich zu machen. Warum sich zum Beispiel der Kanton Zürich eine Maschine beschaffen muss, um die eigene Bevölkerung mit dem allereinfachsten Hygieneutensil zu versorgen, mit einer Gesichtsmaske nämlich. Warum die entsprechenden Fabriken nicht mehr in Biberist stehen. Sondern in Wuhan. Und ob dieses Allokationsproblem vielleicht nicht nur Zellulose betrifft, sondern auch Information, Bildung, Nahrung und Medikamente. Die ganz einfache Frage, was es uns als Gesellschaft kostet, an den Bedürfnissen der Mehrheit vorbeizuproduzieren.

Es gibt immer noch Menschen, die wissen, dass auch jenem, der nicht zu fragen wagt, früher oder später eine Antwort präsentiert werden wird.

Jemand, der sich tatsächlich um das Gemeinwohl sorgt und darin sogar die kommenden Generationen einschliesst, sollte seine Fragen nicht aufschieben. Jedem, der etwas an dieser Gesellschaft liegt, wird sich fragen müssen, warum wir nicht in der Lage waren, uns frühzeitig einer drohenden Gefahr zu stellen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und was diese Gesellschaft, als Ganzes, in Zukunft unternehmen muss, um jenen Gefahren zu begegnen, die im Gegensatz zur Pandemie neu und darüber hinaus um ein Vielfaches bedrohlicher sind, mehr verlangen als ein Pflichtlager für zwei Monate. Sie werden Entscheidungen von uns fordern, von deren Ausmass wir uns immer noch keine Vorstellung machen. Wir sollten nicht warten und uns endlich dieser Verantwortung stellen, jetzt, noch in diesem Frühling.

Apropos: Im März, so melden die Meteorologen, stieg die Temperatur im landesweiten Mittel 0,8 Grad über die Norm der letzten vierzig Jahre. Die Niederschlagsmengen hingegen blieben unter der Norm. Es war also überdurchschnittlich warm, trocken und sonnig. Ist das also vielleicht schon der Frühsommer?

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