Kolumne «Weltanschauung»
Opfer-Narzissmus

Wer sich als Opfer darstellt, muss keine Argumente mehr liefern – er oder sie ist immer im Recht. Aber wenn das so weitergeht, sind bald alle Opfer. Wer ist dann noch Täter?
Publiziert: 12.10.2020 um 07:41 Uhr
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Aktualisiert: 22.11.2020 um 22:25 Uhr
Giuseppe Gracia

Heute tendieren viele dazu, sich in einer Debatte oder Diskussion relativ schnell angegriffen oder verletzt zu fühlen. Statt Argumente zu widerlegen und Denkarbeit zu leisten, geht man dann in die Opferrolle und klagt an. Statt aufzuzeigen, warum gewisse Ideen schlecht sind, führt man lieber aus, warum gewisse Menschen schlecht sind. Schlechte Menschen: Das sind Täter. Gute Menschen: Das sind Opfer.

Auch in der öffentlichen Diskussion zeigen sich Politiker oder Aktivisten öfters verletzt. Sie inszenieren sich als Stimme von Opfern der Gesellschaft, um sich selber mit moralischer Überlegenheit auszustatten. Es ist dann natürlich wichtig, den politischen Gegner gezielt zu missverstehen und ihm zum Beispiel rassistische, sexistische oder rechtsradikale Aussagen zu unterstellen, die er nie gemacht hat, und böse Absichten, die auf einen bösen Charakter hinweisen.

Moralischer Überlegenheitswahn

Es gehört zum moralischen Überlegenheitswahn, dem Publikum einen möglichst bösen Täter zu präsentieren, um im Vergleich dazu selber möglichst gut dazustehen. Ein Verhaltensmuster, das man Opfer-Narzissmus nennen könnte. Es geht um Selbstgerechtigkeit, um ein übertrieben unschuldiges Selbstbild auf Kosten des Täters. Der Opfer-Narzisst sagt im Grunde: «Behandelt mich gut und verurteilt den Täter. Betrachtet alle meine Ansprüche als legitim, denn ich bin das Opfer.»

Zahlreiche Gruppen entdecken für sich den Opferstatus und erwecken den Eindruck, die Gesellschaft produziere immer mehr Unterdrückte. Das nehmen die Medien dann auf: Arme als Opfer von Reichen, Frauen als Opfer von Männern, Nicht-Weisse als Opfer von Weissen, Nicht-Heterosexuelle als Opfer von Heterosexuellen.

Gesucht: Neue Täter

Wenn das so weitergeht und sich der Opferstatus überall durchsetzt, werden auch reiche, weisse, männliche Heterosexuelle eines Tages als Opfer dastehen wollen. Als Opfer derer, die sie als Täter brandmarken. Dann wird man verzweifelt nach neuen, noch unentdeckten Tätern suchen, aber man wird keine mehr finden. Und vielleicht wird man endlich wieder erkennen, dass die Annahme der eigenen Unschuld weder das Herz noch die Gesellschaft besser macht. Wie es schon die jüdische Weisheit aus dem babylonischen Talmud (6. Jahrhundert) gelehrt hat: «Der Mensch soll sich zur Hälfte für unschuldig halten und zur Hälfte für schuldig.»

Giuseppe Gracia (53) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein neuer Roman «Der letzte Feind» ist im Fontis Verlag, Basel, erschienen. In der BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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