«Man soll nie vergessen, dass die Gesellschaft lieber unterhalten als unterrichtet sein will», schrieb ausgerechnet Adolph Knigge (1752–1796), der Sohn einer verarmten Adelsfamilie. Die Mutter starb, als er elf Jahre alt war, der Vater, als er 14 war. Immerhin erbte er. Leider nur Schulden in der Höhe von 130'000 Reichstalern. Wer heute klagt, das Leben spiele nicht fair, findet Trost in historischen Biografien.
Berühmt wurde Knigge mit seinem Benimmratgeber, der seit 1788 unzählige Male dem Zeitgeist angepasst wurde. Ironischerweise hatte er selbst nicht viel übrig für die Political Correctness seiner Zeit, verspottete die «erbärmlichen Hofschranzen» und das ganze «Hofgeschmeisse» in adligen Kreisen. Mit schöner Regelmässigkeit wurde er aus Organisationen und herrschaftlichen Prinzen- und Fürstenhöfen geschmissen.
Die Knigges der Gegenwart sind bornierte Zeitgeist-Moralisten im Umfeld amerikanischer Universitäten. Zeichneten sich bisher kontroverse Debatten durch die intellektuelle Schärfe der Beteiligten aus, triumphiert heute die Lautstärke über das Argument. Die Jagd auf politisch Unkorrekte hat mittlerweile die Attraktivität von Gesellschaftsspielen.
Die Welt ist ein einziges Fettnäpfchen
Wer findet den nächsten Fauxpas? Hat jemand vor 30 Jahren sein Gesicht schwarz bemalt, als er in einem Schultheater den Othello spielte? Blackfacing! Oh, sorry. Darf ich einen Sombrero tragen? Kulturelle Aneignung! Oh, sorry. Darf man Filipinas loben, weil sie die Lebensfreude in den Genen haben? Positiver Rassismus! Oh, sorry. Darf ein Bleichgesicht die Gedichte einer Afroamerikanerin übersetzen? Darf ein Nichtitaliener eine Pizza in den Ofen schieben?
Die Empörungslust kennt keine Grenzen, die Welt, ein einziges Fettnäpfchen. Während auf dem Planeten Milliarden Menschen ohne sauberes Wasser, sanitäre Anlagen und ausreichend Nahrung ihr Dasein fristen, trampelt der Mob der Erleuchteten wie eine wild gewordene Bisonherde durch die Weiten der Internets.
Nachdem sich Knigge überall unbeliebt gemacht hatte, entwickelte er sich zum Satiriker: «Man vergesse nicht, dass das, was wir Aufklärung nennen, anderen vielleicht als Verfinsterung scheint.» Er würde uns heute zurufen: «Hört auf, euch ständig zu entschuldigen!»
Claude Cueni (65) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Soeben erschien bei Nagel & Kimche sein neuer Roman «Hotel California – Meine Botschaft an Elodie».