Auf den vom Fernsehen, von Zeitungen, Ärzten, Krankenkassen beworbenen Dry January soll der Sober October folgen und so immer weiter.
Doch während viele Boomer sich nur vorübergehend vom alltäglichen Rausch lossagen mögen, folgt Billie Eilish, das singende Role Model der Generation Z, dem trockenen Lebensstil bereits jetzt ganzjährig. Und auch auf Instagram wird eine alkoholfahnenfreie Fröhlichkeit propagiert, die 20-jährigen Zwillinge Lena und Lisa etwa, Influencerinnen mit 20 Millionen Followern, verkünden frisch geföhnt und blitzblank lächelnd: Wir trinken nicht, feiern aber gern!
Den global zunehmenden Trend zur jugendlichen Nüchternheit – in der Schweiz nimmt der Alkoholkonsum unter Jugendlichen seit 2002 stetig ab; in den USA geben mittlerweile 28 Prozent der College-Studenten an, abstinent zu sein – dürfte mancher Vertreter der älteren Generation als Versteigerung der Restbestände vom mondän-exzessiven Leben begreifen, als Verabschiedung einer menschenfreundlichen Lockerheit. Als weiterer, gnadenloser Vorstoss der Selbstoptimierungsgesellschaft, die verlangt, sich eisern im Griff zu haben und dabei fit, frei, fröhlich auszusehen. Nicht zuletzt, weil die sozialen Medien keine beschwipste Entblössung vergessen.
Nüchternheit dient aber auch als trauriger Beweis für die Isolation vieler. Früher, so denkt sich unser Boomer, bewältigte man seine Jugend angetrunken in der Disco, man setzte sich in den Park und liess die Flasche kreisen. Und die Jungen heute? Hocken am Handy, allein zu Hause. Klar macht ein volles Glas beim Chatten, Streamen, Gamen keinen Sinn. Wem auch sollte man da zuprosten?
Selbstverständlich haben die Jungen einen Punkt: Alkohol kann krank, aggressiv, süchtig machen. Er schwächt die Selbstkontrolle, die Disziplin, die Effizienz. Er ist eine Droge der Selbsterfahrung und des Selbstverlusts. Er kann Erinnerungen hervorholen, sie aber auch zuschütten oder einen mit Erinnerungen überschütten.
Doch der Boomer freut sich, dass er nur noch zwei Wochen warten muss, bis er seinen grausam klaren Blick wieder ab und an verschleiern darf. Denn manchmal ist das Geplapper der Welt nur schwer auszuhalten, zum Brüllen lächerlich, zum Abwinken idiotisch. Da hilft es, wenn man gar nicht merkt, dass der Nachbar zum zehnten Mal dasselbe erzählt. Alles wird gut.
Ursula von Arx trinkt gern. Und erschrickt jedes Mal darüber, wie viele Ausreden ihr einfallen, nachdem sie sich vorgenommen hat, einige Tage nüchtern zu bleiben. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im Blick.