Zwei Jahre lang haben wir körperliche Begegnungen mit Bekannten vermieden, aus pandemisch guten Gründen blieben wir uns fern. Jetzt können wir zurückfinden zu unseren alten Ritualen. Aber wollen wir das überhaupt? Waren die physischen Annäherungen zur Begrüssung und Verabschiedung nicht immer schon Momente der Peinlichkeit, Ausdruck von Macht- und Missverständnissen?
Denn wer bestimmt jeweils die Art der Kontaktaufnahme? Status vor Alter vor Geschlecht – so die ungeschriebene Regel. Dass ein Angestellter seine Chefin uneingeladen mit einem auf die Wange gehauchten Kuss begrüsst, dürfte weiterhin als gewagt bis gefährlich wahrgenommen werden.
So fremd, so nah
Doch selbst unter gesellschaftlich ähnlich Gelagerten ist die Frage offen, welche Art der Begegnung die angemessene ist. Wie innig darf die Umarmung ausfallen? Oder doch nur ein Handschlag? Oder wieder Küsse? Und wenn ja, wie viele? Vier (wie die Pariser), drei (die mässigenden Schweizer) oder zwei (die ernüchternden Deutschen)? Haben Sie das auch schon erlebt, dieses rechts, links, rechts, dann Kuss in die Luft, weil das Gegenüber sich schon abgewendet hat? Peinlich, peinlich. Denn so unersättlich wie man scheint, ist man doch nicht, man wollte sich ja nur anpassen. Aber an wen? Wie kann man ahnen, wen man vor sich hat? Ob Paris oder Preussen?
Andererseits sind das die Momente, um über sich selbst hinauszuwachsen. Während andere so tun, als hätten sie alles unter Kontrolle, wissen Sie, dass es nicht so ist. In Ihren Augen sind Sie vielleicht jemand, der nur freundlich sein will, respektvoll und höflich. Doch wenn andere Sie als einen Übergriffigen sehen wollen, einen Schleimer oder als einen Tölpel, der die Regeln nicht kennt – was tun? Die Unsicherheit aushalten, die Peinlichkeit zulassen, das Missverständnis begrüssen. Denn diese Gefühle können Verbindlichkeit stiften. Wir sind uns alle fremd, das bringt uns nah.
Anker im Meer der Einsamkeit
Womit wir wieder bei den Begrüssungsritualen sind und der Frage, ob sie wiederbelebt werden sollen. Die Antwort ist: Ja! Und zwar nicht nur als Anker im Meer der Einsamkeit, in dem wir schwimmen, als beredter Aufstand gegen die Schwerkraft der Vereinzelung, sondern vor allem, weil die Berührungen uns im Kleinen zeigen, was uns auch im Grossen verbindet: unsere Unsicherheit. Alles wird gut.
Ursula von Arx ist noch nie ein Mensch in Erinnerung geblieben, weil er gute Begrüssungsküsse gibt. Aber einige, weil sie zu feuchte geben. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im Blick.