Einer Ihrer Gäste schläft am Tisch ein. Früher wären Sie beleidigt gewesen, heute haben Sie Verständnis: Claudia ist halt einfach erschöpft! Claudia ist nicht allein. Gemäss dem Job-Stress-Index klagten 2022 rund ein Drittel der Schweizer Erwerbstätigen über emotionale Erschöpfung, so viele wie noch nie.
Doch überfällt das Ich-mag-nicht-mehr-Gefühl nicht nur die von Produktivitätsdruck Geplagten. Es trifft zunehmend alle: ob Kind oder kindisch, ob jugendlich, im Rentenalter oder arbeitslos, ob arm, ob reich, keiner will oder darf Möglichkeiten missachten. Denn das Leben ist kurz. Da ist die Vorstellung verständlich, es solle dicht sein und nicht ungenutzt verstreichen.
So sitzt einem entweder eine Chefin im Nacken oder die eigene Abstiegsangst, denn Geld, Liebe, Status, Zeit – was könnte man nicht alles verlieren; vielleicht ist man auch getrieben von einer unersättlichen Neu- und Lebensgier oder vielleicht von einer Mischung aus allem. Das Angebot ist endlos, die Zwänge, die äusseren und inneren und die vermeintlichen, sind es auch.
Es ist diese Verschlungenheit von Müssen und Wollen, die uns am Laufen hält. Die neuen Technologien haben unsere Freiheiten paradoxerweise nicht vergrössert. Weil wir dauernd erreichbar sein können, müssen wir es auch. Weil wir dauernd News und Neues haben können, wollen wir dies auch. Dabei können wir uns kaum entspannen.
Manch einer ist so unermüdlich, dass er irgendwann so müde ist, dass er sogar zu müde ist, um zu schlafen. Er weiss zwar, dass er längst im Bett sein sollte. Aber um vernünftig zu sein, ist er schlicht zu erschöpft. Jetzt vom Sofa aufstehen und dann via WC und Badezimmer ins Pyjama schlüpfen und dann noch unter die Decke? Zu anstrengend. Vielleicht sollte er ein letztes Mal die Mails checken? Ausserdem wollte er endlich mal in die «Harry und Meghan»-Netflix-Doku reinschauen.
Claudia jedenfalls weiss, sie braucht eine Pause, eine richtige. Sie hat sich vorgenommen, über den Mittag jeweils an die frische Luft zu gehen. Nie wieder wird sie auf ihrem Bürostuhl und auf Instagram kleben bleiben, selbst wenn sie das Gefühl hat, nur noch genau das zu wollen.
Nicht zu müssen, was man nicht will, das war einmal die klassische Definition von Freiheit. Für uns Erschöpfte gibt es noch eine andere Freiheit: Nicht mehr zu müssen, was man will. Alles wird gut.
Ursula von Arx weiss, dass sie viel zu viel will – ist aber leider nicht sicher, ob sie das Nichtwollen aushielte. Arx schreibt jeden zweiten Montag im Blick.