Wir werden uns an das Jahr 2020 noch lange als eines zum Vergessen erinnern. Noch lange werden wir uns erzählen, wen wir alles nicht gesehen haben, wo wir nicht waren, was wir nicht taten. Das Jahr unseres ungelebten Lebens.
Ob der vielen schlechten Erinnerungen droht unterzugehen, was alles gut lief. Die Wissenschaft zum Beispiel. Sie hat in Rekordzeit und unter öffentlicher Hyperbeobachtung mehrere Impfstoffe entwickelt.
Die Nachbarschaftshilfe. Überall in der Schweiz halfen die Menschen einander. Gesunde kümmerten sich um Kranke, Junge gingen für Alte einkaufen.
Die Medien. Wir wissen jetzt alle einigermassen gut, was ein R-Wert ist, dass die Fallzahlen den Ansteckungen hinterherhinken, dass Viren mutieren, und dass eine solche Pandemie zum Lauf der Welt gehört. Die Journalistinnen und Journalisten haben es uns gut erklärt. So gut, dass jene Leute, die Impfungen für gefährlich halten oder Bill Gates für den Mann, der uns ALL DAS eingebrockt hat, dass jene Leute eine unbedeutende Minderheit geblieben sind.
Die Politik hat im Frühling gut reagiert. Der Staat hat seine Hilfe für Unternehmen, Selbständige und Angestellte schnell und mit der ganz grossen Kelle angerichtet. Zum Beispiel mit Kurzarbeit: Im April bezog jeder vierte Angestellte seinen Lohn zum Teil vom Staat. Darum gab es kaum mehr Arbeitslose und bisher kaum Konkurse.
Wo die Menschen Regeln wollen
Auch viele Behörden haben Grossartiges geleistet. Die Arbeitslosenkassen zum Beispiel haben an manchen Tagen über 8000 Kurzarbeitsabrechnungen erledigt – statt wie in normalen Jahren täglich etwa 10.
Merken sollte man sich aber auch, was nicht funktioniert hat. Die Eigenverantwortung nämlich. Wir trugen erst Maske im Tram, als auch die anderen eine trugen. Also erst, als wir mussten. Die Leute kümmern sich umeinander – in der Familie, unter Freunden, im Quartier. Im öffentlichen Raum erwarten die Menschen Regeln, und das zu Recht.
Die Eigenverantwortung war das Märchen, das von Politikerinnen und Politikern erzählt wurde, die keine einschneidenden Massnahmen ergreifen wollten oder konnten. Wenn wir dieses Märchen endlich vergessen, kriegen wir auch die zweite Welle in den Griff. Alles wird gut.
Ursula von Arx nervt sich jeden Tag über die Maske, die geschlossenen Kinos, die abgesagten Treffen mit Freunden. Und weiss, dass sie das locker noch einige Monate aushält. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im BLICK.