Es ist eine prima Sache, im Moment zu leben. Das wusste der römische Dichter Horaz – «carpe diem», riet er, pflücke den Tag –, und das verordnet einem auch jede Küchenpsychologin und jeder Wellness-Guru heute.
Mit gutem Grund. Denn begibt man sich auf mentale Zeitreisen, kommen schnell mal Angst, Nostalgie oder Reue hoch. Man bereut Dinge, die man nicht mehr ändern kann, verklärt, was nicht mehr zu haben ist, oder ängstigt sich vor der unbekannten Zukunft. Also besser Versenkung in den Augenblick. Kein Gestern, kein Morgen, Flucht ins Jetzt. Die Substanzen, die dabei helfen, sind bekannt und werden in den nächsten Tagen besonders oft genossen.
Es lebe die Vorfreude!
Aber seltsam: Wenn ein Jahr zu Ende geht und ein neues anfängt, machen wir gern auch das Gegenteil, lassen das vergangene Jahr Revue passieren und nehmen das neue mit Wünschen und Vorsätzen vorweg. Und auch das hat gute Gründe. Jetzt kommen die Tage, um sich mit einer gewissen Heiterkeit mit seinem ganzen vermeintlich verpassten Leben zu versöhnen.
Und um Horaz zu vergessen. Denn jeden Augenblick pflücken zu müssen, wäre ein Dauerstressprogramm. Es wäre schrecklich anstrengend, tatsächlich nur im Hier und Jetzt zu leben, jede Begegnung auszukosten und jede Butterblume ehren zu müssen.
Wie armselig würden wir dabei. Man müsste sich Wünsche, Sehnsüchte, Erinnerungen verbieten. Man müsste sich den Wunsch nach dem Ende der Pandemie, nach Weltfrieden und Schnee verbieten. Die Vorfreude auf die nächsten Sommerferien am See und die Sehnsucht nach den letztjährigen müsste man sich verbieten und ausserdem die Erinnerung an den ersten Kuss. Vor über zwanzig Jahren war das, als Saschas Lippen wie kleine Tierchen über ihre Wangen huschten. Was wohl aus ihm geworden ist?
«Chronologischer Snobismus»
Nein wirklich, wir sollten uns hüten vor dem «chronologischen Snobismus», wie der irische Autor C. S. Lewis den Glauben beschrieb, dass alles, was in der Gegenwart geschehe, besser und wichtiger sei als Vergangenes oder Zukünftiges.
Besser reihen wir uns ein in die lange Reihe unserer Vor- und Nachfahren. Besser schauen wir uns alte Filme an, lesen alte Bücher, besuchen das Dorf, in dem wir aufgewachsen sind. Weil wir auch im Moment sind, was wir waren und sein werden im neuen Jahr.
Vergessen Sie einen Moment lang den Moment. Alles wird gut.
Ursula von Arx schaut auch darum gern zurück, weil sie dabei feststellt, dass sie jedes Jahr ein bisschen besser darin wird, die Festtage nicht zu Stresstagen werden zu lassen. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im Blick.