Warum sind so viele junge Männer so körperversessen? Sie ziehen bizepsbetonte T-Shirts an und beäugen in jeder blank geputzten Fensterscheibe ihr Schulterwachstum in die Breite. Frei von Scham setzen sie auf Instagram die Muskelberge ihrer Oberarme in Szene. Auch die Selfies vom Sixpack rufen nach Applaus. Ein selbstironisch-subversiver Blick auf die ihren Alltag bestimmende Muskelbegeisterung ist dabei kaum auszumachen. Im Gegenteil.
Mit grosser Ernsthaftigkeit und dem Habitus von Experten erklären einem die Jungs detailreich, in welcher Reihenfolge welcher Körperteil am effizientesten trainiert werde und wie viele Proteine von welcher Art man wann am besten zu sich nehme. Gleichzeitig mit dem Körper werde der Geist gefordert: «Du bist Boss, wenn du deine Ziele fokussierst / Und dich jeden Morgen selber vor dem Spiegel motivierst / Wenn du rigoros trainierst, um deine Muskeln zu stählen», so sang der deutsche Rapper Kollegah schon 2014, und die Jungen von heute stimmen zu: Disziplin, den inneren Schweinehund bekämpfen, über sich hinauswachsen, no pain no gain, ohne Fleiss kein Preis.
Doch in ihrer unbedingten Hoffnung auf begeisterte Follower haben die beinharten Männer auch etwas von einem Baby, das seine ersten Schritte wagt – und dabei fortwährend nach der hingerissenen Zustimmung von Papi und Mami schielt.
Ist es also Unsicherheit, die «Krise der Männlichkeit», die mit Muskelmasse kompensiert werden soll? Oder ist es der Wunsch nach Abgrenzung gegen die vor lauter Fleischverzicht und Klimaangst und LGBTQIA-Gerede schlaff gewordenen Woken? Eine muskelstrotzende Rebellion gegen eine Body Positivity, die behauptet, alle seien schön, und dabei Disziplinlosigkeit als Individualität ausgibt?
Oder ist der Muskelwahn vielleicht sogar eine Art Gottesersatz? Man strebt zwar immer noch himmelwärts, aber neu liegt der Weg, die Wahrheit und das Leben nicht mehr ausserhalb von einem selbst, sondern in einem selbstgesetzten Ideal-Ich. Es geht nicht mehr darum, ein vorbildlicher Christ, ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu sein, sondern darum, sich selber die optimale Form zu verleihen: seinen Körper zu trainieren, dynamisieren, modellieren.
Dabei stehen die wie eine Kobra lebendigen Bizepse und Trizepse im Dienst von niemandem und von nichts. Der muskelbepackte Körper genügt sich selber. Er geniesst sich in seiner verbesserten Version und kommt doch nie ans Ziel. Denn immer wird er etwas finden, das zu optimieren wäre. Nie droht er, das Ideal zu erreichen und den Lebenssinn zu verlieren. Alles wird gut.
Ursula von Arx bezeichnet ihre Workouts als Turnen und sagt sich, dass sie es nur tut, um beweglich zu bleiben. Und staunt dennoch, wie zufrieden sie danach jeweils ist. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im Blick.