Krieg an den Toren Europas. Inflation. Hegemonen am Horizont. Ein neuer kalter Krieg. Die Zeit, möchte man mit Hamlet ausrufen, ist aus den Fugen! Wenn die Unsicherheit weltweit steigt, steigt zugleich das Bedürfnis nach Absicherung zu Hause. Aber auch hierzulande gerät manch Solides aus den Fugen – selbst verschuldet.
Nehmen wir die Alters- und Hinterlassenenversicherung. Seit langem tendiert das jährliche Umlageergebnis der AHV (alle Beiträge minus Auszahlungen) unter oder gegen null. Und dies, obwohl viele Babyboomer erst noch in Rente gehen. Die AHV, ein Pfeiler des Sozialstolzes der Schweiz, erodiert vor aller Augen, ungeachtet der Pflästerlipolitik der letzten Jahre.
Nun solls ein weiteres Pflästerli richten, die Reform AHV 21 – mitunter soll das Rentenalter der Frauen um ein Jährchen auf 65 Jahre heraufgesetzt und die Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent erhöht werden.
Gegacker und Empörung bringen nichts
Die angeblichen bürgerlichen Problemlöser gebärden sich, als hätten sie das Ei des Kolumbus gefunden – sie gackern in einem fort. Und die Etatisten auf der anderen Seite des Spektrums empören sich, weil sie dies am besten können.
Dabei müssten alle wissen: Die Reform ist bloss ein Reförmchen. Schon 2029 ist das Umlageergebnis der AHV gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen bereits wieder negativ. Der unbedarfte Bürger folgert wiederum mit Shakespeare scharf: Viel Lärm um nichts!
1948, als die AHV eingeführt wurde, betrug die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren für Männer weitere 12,4 und für Frauen 14 Jahre. Heute sind es 19,3 Jahre für die Männer und 22,2 Jahre für die Frauen. Oder: 1970 kamen fünf Beitragszahler für einen Rentner auf – heute sind es noch deren drei. Das sind Fakten, und sie sagen uns: Entweder die Jungen zahlen immer mehr, oder die Rentner erhalten immer weniger. Oder wir arbeiten immer länger, zumal wir ja auch immer älter werden. Ein Viertes gibt es nicht.
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AHV muss entpolitisiert werden
Klar ist: Bis zur Abstimmung über die AHV-21-Reform im Herbst werden Gegacker und Empörung des Politbetriebs weiter anschwellen. Doch statt die AHV noch mehr zu politisieren, wäre es an der Zeit, sie zu entpolitisieren. Denn es geht nicht um Politik, sondern um simple Mathematik. Was es braucht, ist eine Regelbindung, zum Beispiel so: Je älter wir werden, desto länger arbeiten wir. Sollte das Umlageergebnis dennoch irgendwann wieder negativ ausfallen, erfolgt eine automatische Anpassung von Beitragshöhe und Pensionsalter – Jung und Alt beissen solidarisch in den sauren Apfel.
So viel Transparenz darf man mündigen Bürgern zutrauen. Und die Politik hätte tatsächlich ein Problem gelöst. Sie hätte sich, oh Wunder, in dieser Frage überflüssig gemacht.
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.