Wer sich an die veröffentlichte Meinung in sozialen und klassischen Medien hält, könnte folgern: Diskriminierung allüberall – wir leben in der rassistischsten Gesellschaft aller Zeiten!
Doch gemach! Erstens ist die veröffentlichte Meinung nicht die öffentliche – ein kleiner, aber feiner Unterschied. Und zweitens gehört zu den Eigenschaften egalitärer Gesellschaften, dass deren Bewohner ganz besondere Sensibilitäten entwickeln: Je geringer die tatsächlichen Differenzen und Diskriminierungen, desto stärker und abstruser die gefühlte Ungerechtigkeit.
Selbstverständlich gibt es auch in unseren Breiten weiterhin Rassisten unterschiedlicher Ausprägung und folglich rassistisch motiviertes Handeln. Doch man muss, um dies beurteilen zu können, jeweils genau hinschauen, den konkreten Ablauf und Kontext der mutmasslichen Untat kennen. Die Inflationierung des Rassismus-Begriffs hingegen verharmlost das Problem: Wenn jeder Anflug von Antipathie einem Menschen gegenüber rassistisch sein soll, dann ist nichts mehr wirklich rassistisch.
Statistischer Unfug wird Mainstream
Zur vermeintlichen Rassismus-Flut trägt ein neuer Kulturexport aus den USA bei, die sogenannte Critical Race Theory (CRT). «Kritisch» klingt erst mal gut, also nach Differenzierung, doch passiert das genaue Gegenteil. Nach der CRT werden alle Weissen pauschal als Rassisten bezeichnet («Suprematisten»), die alle Nicht-Weissen bewusst oder unbewusst unterdrücken. Westliche Nationen mit ihren Institutionen – Gleichheit vor dem Gesetz, politische Partizipation – sollen per se rassistisch sein. Die wahren Despotien sind – die Demokratien.
Das erinnert an einen gewissen Sound der 68er – und an den Übermut von Kindern aus wohlbehütetem Hause. Das Pseudo-Argument, das auch aus anderen aktivistischen Zusammenhängen bekannt ist: Solange sich die Zusammensetzung der Gesellschaft nach Hautfarbe (oder wahlweise nach Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft) in prestigeträchtigen Berufen und Führungsfunktionen nicht mathematisch exakt widerspiegelt, muss Diskriminierung am Werk sein. Ungleiche Repräsentanz = Ungleichheit der Macht = Unterdrückung = struktureller Rassismus. Satire? Nein, statistischer Unfug, aber akademischer Mainstream in den USA und wohl bald auch in Europa.
Was tun mit dem Geschwurbel?
Der Philosoph Karl Popper nannte solche Gedankengebäude trefflich eine «Verschwörungstheorie der Gesellschaft»: Was in ihr geschieht, ist nach dieser Logik niemals das Ergebnis individueller Entscheide, sondern stets das Resultat eines Masterplans einer mächtigen Gruppe (früher DIE Kapitalisten oder DIE Imperialisten, heute DIE Suprematisten). Nun ja. Man lernt: Die Welt ändert sich, die Verschwörungstheorien bleiben.
Also wach bleiben – und das Geschwurbel souverän überhören.
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.