Gieri Cathomas ist sogar für Bündner Verhältnisse eine originelle Erscheinung. Vor zehn Jahren widmete das rätoromanische Fernsehen dem Bauernsohn aus der Surselva ein halbstündiges Porträt. Titel der Sendung: «Gieri, il stroli» – Gieri, der Strolch. Es ist die Geschichte eines Energiebündels, das wegen seiner vorlauten Klappe aus der Klosterschule Disentis fliegt, später Medizin studiert und in Zürich unter anderem eine florierende Klinik für Botox-Behandlungen betreibt. Wobei Cathomas selber nicht zur Spritze greift – denn, so sagt er im Film: «Ich bin lieber Unternehmer als Arzt.»
Das Botox-Geschäft hat GieriCathomas inzwischen verkauft, als Medizinmanager hat er sich nun einer
ungleich edleren Mission verschrieben: Der 44-Jährige soll den Bündnerinnen und Bündnern die Freiheit
wiedergeben. Alt Fry Rätien reloaded sozusagen. Der Kanton Graubünden hat ihn angeheuert, um den Corona-Test zur Alltagshandlung zu machen. Auf diese Weise soll die Krankheit früh erkannt, die Ausbreitung des Virus verhindert werden. Weitere Lockdowns – so die Hoffnung in Chur – würden überflüssig.
Solange die Bevölkerung nicht geimpft ist, will Graubünden mindestens 20'000 Corona-Tests pro Woche
durchführen. Wer häufig unter Leute geht, lässt sich häufig testen; falls erforderlich, auch einmal pro Tag.
Es ist das ambitionierteste soziale Experiment, das hierzulande je vorgenommen wurde.
In besagtem TV-Porträt erzählt Cathomas, wie er einst ins Botox-Business eingestiegen ist. Die erste Praxis habe man jeweils am Sonntagabend in einem Coiffeursalon eingerichtet, 24 Stunden später wurde der Raum wieder umgerüstet. Mit dem gleichen Improvisationstalent geht er bei seiner jetzigen Tätigkeit zu Werke. Es erstaunt darum nicht, dass das Projekt in Bern zunächst auf Ablehnung stiess. Noch am Mittwoch dieser Woche mochte man sich beim Bundesamt für Gesundheit nicht einmal zu ein paar aufmunternden Worten durchringen.
Umso bemerkenswerter ist der Sinneswandel vom Freitag: In einem Verordnungsentwurf signalisiert das BAG plötzlich Entgegenkommen, stellt Graubünden Geld und organisatorische Unterstützung in Aussicht. Die Chancen stehen gut, dass die Vorlage kommenden Mittwoch im Bundesrat eine Mehrheit findet. Damit rückt
man beim Bund zum ersten Mal seit Ausbruch der Pandemie von der überkommenen bürokratischen Denkweise ab, auf Entwicklungen immer nur defensiv zu reagieren. Man wagt sich zwar nicht selbst auf unerprobtes Gelände, rollt aber denjenigen, die vorangehen, wenigstens keine Steine mehr in den Weg.
Vielleicht haben sich die Gesundheitsbeamten in Bern vom Engagement der Bündner beeindrucken und
umstimmen lassen. Vielleicht haben sie einfach nur eingesehen, wie wenig man bisher durch Dienst nach Vorschrift ausgerichtet hat. Schliesslich lässt sich die Schweizer Corona-Bilanz mit bislang beinahe 8500 Toten beim besten Willen nicht als Erfolg bewerten. Ebenso wenig ist der aktuelle zweite Lockdown ein erstrebenswerter Zustand.
Natürlich kann das Bündner Vorhaben scheitern. Neben Problemen der Logistik stellt sich vor allem eine
Frage: Wie diszipliniert und ehrlich sind die Menschen im Ferienkanton? Versucht hier ein Skilehrer die Isolation zu umgehen, weil er sich zwei Wochen ohne Lohn schlicht nicht leisten kann? Wird sich dort ein Tourist drücken, weil er einfach nur seinen Urlaub geniessen möchte?
Gieri Cathomas und seine Mitstreiter können scheitern, ja. Womöglich erleben wir heute aber auch eine entscheidende Wende in der Pandemiebekämpfung, und Graubünden wird zum Vorbild für alle Kantone. In jedem Fall sucht man in Chur nach Auswegen aus der vorherrschenden Lethargie, schon dies allein verdient Respekt.