Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Impfen ist eine Pflicht, keine Frage des persönlichen Lifestyles

Die meisten gingen davon aus, Covid sei nur ein kurzer Schluckauf der Geschichte. Nach zwei Jahren Pandemie müssen wir uns von dieser Illusion lösen. Es ist an der Zeit, dass sich unser Selbstverständnis grundlegend ändert.
Publiziert: 19.12.2021 um 00:26 Uhr

Im Jahr 1921 starben hierzulande 6405 Menschen an Tuberkulose, 519 an Diphtherie. Je 155 erlagen den Masern und dem Keuchhusten, 106 dem Typhus, 42 Scharlach, 13 der Kinderlähmung. 1961 forderten diese Infektionskrankheiten zusammen gerade noch 651 Todesopfer. Wer in Zeitungen der 1960er-Jahre blättert, stösst vielfach auf ungläubiges Staunen. Das «Thuner Tagblatt» etwa schwärmte 1964, wie «die Wissenschaft diese Krankheiten äusserst erfolgreich bekämpfte».

Allmählich verschwanden diese Berichte. Die Medizin, insbesondere das Impfen, bescherte den Bewohnern Westeuropas ein «Zeitalter der Immunität», wie der deutsche Historiker Malte Thiessen formulierte. Wir gewöhnten uns an die Seltenheit ansteckender Krankheiten – und merkten nicht, wie verwöhnt wir waren.

Aus diesem Grund gingen die meisten davon aus, Covid sei nur ein kurzer Schluckauf der Geschichte. Nach zwei Jahren Pandemie jedoch müssen wir uns von dieser Illusion lösen. Es ist an der Zeit, dass sich unser Selbstverständnis grundlegend ändert.

Impfen beispielsweise ist keine Frage des persönlichen Lifestyles. Sich impfen zu lassen, ist eine Pflicht für jeden und jede. Und es ist die Aufgabe des Staates, diese Pflicht einzufordern. Die jüngsten Zahlen aus Südafrika deuten darauf hin: Der Booster dürfte bei einer Ansteckung mit Omikron bis zu 70 Prozent vor Hospitalisierung schützen. Für jemanden, der trotz Impfung ins Krankenhaus muss, ist das Risiko, auf der Intensivstation zu landen, immer noch deutlich geringer als bei Ungeimpften.

Hat die Politik erkannt, welche tief greifende Zäsur Covid für uns alle bedeutet? Veranlasst sie demnach alles in ihrer Macht Stehende, um ein Impfobligatorium einzuführen? Und setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung, um in unseren Schulen unverzüglich leistungsfähige Lüftungen zu installieren?

Eine Episode aus der vorgestern zu Ende gegangenen Wintersession des Parlaments: Die Gesundheitskommission des Ständerats möchte der Landesregierung ausdrücklich verbieten, Kapazitätsbeschränkungen für Restaurants und Veranstaltungen zu erlassen. Der Ständerat folgt diesem Vorschlag, worauf die gleiche Gesundheitskommission – dieses Mal freilich vergebens – per Rückkommensantrag verlangt, das genaue Gegenteil zu beschliessen. Ratsarbeit als Realsatire.

Ein solches Irrlichtern kann sich die Landesregierung zu unser aller Glück natürlich nicht leisten. Sie hat am Freitag Homeoffice für einen Grossteil der Beschäftigten angeordnet. Ausserdem lanciert der Bundesrat 2G als Voraussetzung für eine Teilnahme am öffentlichen Leben, also den Status «geimpft» oder «genesen». Gut an diesem Konzept ist, dass es parallel zu 2G entweder eine Masken- oder eine Testpflicht gibt. Schlecht ist die von Aussenminister Ignazio Cassis ersonnene Ausnahme, wonach die Testpflicht für Discos und Bars erst vier Monate nach der Booster-Impfung gilt. Omikron freut sich über jede Lücke in unserem Sicherheitsdispositiv. Es ist darum mehr als nur fraglich, inwiefern die neuen Massnahmen das mutierte Virus wirklich bremsen werden.

Wahr ist in jedem Fall: Statt eine vorausschauende und vorsorgende Politik zu betreiben, beschränkt sich der Bundesrat bestenfalls aufs kurzfristige Reagieren und Improvisieren. Er klammert sich weiter an die Hoffnung, Covid sei nicht die Realität, sondern lediglich ein surrealer Albtraum, aus dem es gleich ein Erwachen gibt.

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