Claude Cueni über den Eigenbrötler Alphonse Bertillon
Genial, aber schwieriger Charakter

Alphonse Bertillon war eine Koryphäe in der Forensik. Schriftsteller Claude Cueni über das Leben des sturen Franzosen.
Publiziert: 21.07.2023 um 05:00 Uhr
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Aktualisiert: 02.08.2023 um 16:03 Uhr
Alphonse Bertillon entwickelte ein System zur Identifizierung von Personen und begann Untersuchungshäftlinge zu vermessen.
Foto: IMAGO/piemags
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Claude CueniSchriftsteller

Der Franzose Alphonse Bertillon (1853–1914) war ein verschrobener Kauz, der zu cholerischen Anfällen neigte und wegen seiner chronischen Migräne zum Eigenbrötler wurde. Er begann seine Karriere mit 26 in der Pariser Polizei-Präfektur. Sein Job bestand darin, Beschreibungen von Kriminellen auf Karteikarten zu übertragen.

Da er seine Kindheit unter Statistikern, Mathematikern und Anthropologen verbracht hatte, war ihm bekannt, dass es keine zwei Menschen mit den exakt gleichen Massen gibt. Er entwickelte ein System zur Identifizierung von Personen und begann Untersuchungshäftlinge zu vermessen, was ihm den Spott seiner Kollegen einbrachte.

Vier Jahre später gelang ihm aufgrund elf körperlicher Merkmale die Identifizierung eines rückfälligen Straftäters. Die Gefahr einer Verwechslung lag bei eins zu ca. vier Millionen. Bertillon wurde zum Leiter des polizeilichen Erkennungsdienstes befördert. Sein System der «Bertillonage» wurde nun mit Fotografien erweitert. Bertillon setzte die inhaftierte Person auf einen Drehsessel und entwickelte einen Apparat, der es erlaubte, hintereinander und auf derselben Platte, ein Front- und ein Profil-Bild (mug shots) herzustellen, ohne dass sich der Verhaftete bewegen musste. Er weigerte sich jedoch, Fingerabdrücke in seine Kartei aufzunehmen, weil er diese für unzuverlässig hielt.

Als 1911 im Louvre die Mona Lisa gestohlen wurde, hinterliess der Straftäter Vincenzo Peruggia auf der Türklinge Fingerabdrücke. Diese waren zwar registriert, aber eben nicht in der Kartei. Bertillon hielt stur an seiner Meinung fest und widmete sich zusätzlich der Grafologie. Im Prozess gegen den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus war er Gutachter und behauptete absurderweise, dass das belastende Dokument gerade deshalb von Dreyfus sein müsse, weil nicht zu beweisen sei, dass es von ihm ist. Selbst nach der Rehabilitierung von Dreyfus wollte Bertillon seinen Fehler nicht eingestehen. Es wäre die Bedingung gewesen für die Verleihung eines Verdienstordens. Bertillon blieb erneut stur und verzichtete auf die Ehrung. Es ist nicht gerade selten, dass Menschen, die auf einem Gebiet Grossartiges geleistet haben, charakterlich weniger grossartig waren.

Claude Cueni (67) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Zuletzt erschien sein Thriller «Dirty Talking».

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