Ich konsumiere News, so wie Sie, die Sie gerade diese Zeilen überfliegen. Was ich alles lese, höre oder sehe, strapaziert mein Gehirn: Krieg in der Ukraine, vor den Toren Europas. Unsere Traditionsbank – die Credit Suisse – ist plötzlich Geschichte. Notrecht wir zum Normalzustand. In der Zwingli-Stadt wird über Baden oben ohne und Menstruationsurlaub diskutiert. Auf Tiktok feiern sich Menschen mit Tourette-Syndrom. Junge Frauen lassen sich operieren, um einem gefilterten Bild auf Social Media zu entsprechen. Das Mammut-Genom ist entziffert, Forscher wollen es klonen. Die USA werden von einem alten Mann regiert, der den Gesprächsfaden zu oft verliert. Klima-Kleber und Klima-Kollaps. Die Inflation ist zurück, Pleiten ziehen an. Künstliche Intelligenz, Chat-GPT. Mein Kopf schwirrt.
Fühlt sich so eine Zeit des Umbruchs an? Drohen tatsächlich Armut, Apokalypse und globale Verwerfungen? Sogleich sehne ich mich nach den 1990er-Jahren zurück. War damals nicht alles so ruhig, übersichtlich, sorglos?
Doch halt – mein Gehirn spielt einen Streich.
Denn in den 1990er-Jahren war es in Zürich schmuddelig. Die Wirtschaft schwächelte, die Arbeitslosigkeit zog an, in vielen Gesichtern lag Traurigkeit. Jugoslawien zerfiel, Kriege mitten in Europa. Die Nato bombardierte Kriegstreiber Serbien. Irak überfiel Kuwait. Völkermord in Ruanda. Digitale Tierchen, Tamagotchis, wurden vergöttert. Immobilien-Crash in der Schweiz. Leute wie Sie und ich offenbarten in Talkshows ihre Ticks. Prinzessin Diana kam zu Tode, auf der Flucht vor Paparazzi. Dolly, das erste geklonte Schaf, wurde geboren. UFOs und Ausserirdische spukten nach der Serie «Akte X» in unseren Köpfen herum. Uriella, weiss gewandet, esoterisch aufgeputscht, flimmerte in unsere Stuben. Der amerikanische Präsident liess sich von einer Praktikantin bedienen. Schach-Weltmeister Kasparow verlor gegen eine (Rechen-)Maschine. Ein ständiges Dröhnen unter dem Schädel.
Kurz: Auch in den 1990er-Jahren herrschte der ganz normale Irrsinn. Die Welt bleibt eine Durcheinanderwelt. Die Verblödungsindustrie ist deren Konstante. Irgendwo auf der Welt ist immer ein Hauen und Stechen. Nach Belieben könnten wir uns sorgen – vor der Zukunft, dem Menschen, dem Leben. Aber das Leben wurde besser.
Wohl dreht es einfach noch schneller. Aber zugleich ist das Leben auch bunter, breiter und tiefer geworden. Es steckt voller Opportunitäten, wie noch nie. Es bringt nichts, in Sorge zu erstarren. Besser, man lebt das Leben. Voller Neugierde, Staunen – und Ehrfurcht statt Furcht.
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.