Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über das Begreifen-Wollen des Menschen
Ich kenne die Antwort – aber was ist die Frage?

Stapelweise Wissens-Magazine hat sein Vater ihm hinterlassen. Kolumnist René Scheu blättert manchmal durch die Hefte und fragt sich, was sein Vater wohl damit verstehen wollte.
Publiziert: 15.05.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.05.2023 um 17:23 Uhr
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Im Haus meiner Mutter hat es einen geräumigen Keller, in dem sich die Magazine meterhoch stapeln. Der Grossstapel ist ein Vermächtnis meines Vaters, Selfmademan und Automechaniker. Doch was wollte er genau damit? Zu seinen Lebzeiten erzählte er mir wiederholt: Eines Tages, wenn er Zeit im Überfluss haben würde, werde er sich die Lektüre dieser Magazine vornehmen, Zeile für Zeile. Es sind «Facts»- und «Weltwoche»-Ausgaben aus den Jahren 2000 bis 2016, seinem Todesjahr.

Wenn immer ich meine Mutter besuche, steige ich in den Keller und bestaune den Magazin-Stapel. Mein Vater, wahrscheinlich der belesenste Automechaniker nördlich der Alpen, wollte die Ausgaben nochmals in Ruhe studieren, mit der Distanz des Nachbetrachters. Doch was wollte er sich damit beweisen? Was ist die Frage, auf die diese Zeitschriften die Antwort sind?

Das ist die grosse Frage, die ich mich seit seinem jähen Tod nicht loslässt.

Mein Vater war ein unbestechlicher Realist – seine Lieblingsdisziplinen waren geopolitische Big-Picture-Überlegungen und ein Begreifen-Wollen unseres letztlich unbegreiflichen Geldsystems. Unsere pazifistische Wohlfühl-Gesellschaft hielt er dabei ebenso für einen Selbstbetrug wie die Schuldenpolitik der Staaten. Ich erzähle das, um begreiflich zu machen, was ihm vielleicht durch den Kopf gegangen wäre, wenn er die Welt erneut durch die alten Magazine betrachtet hätte.

Option 1

Mein Vater wollte den Beweis antreten, dass sich der seiner Meinung nach unvermeidliche wirtschaftliche und politische Schlamassel bereits früh in grosser Klarheit abgezeichnet hatte. Jeder hätte es sehen können, wenn er nur gewollt hätte. Aber die meisten Menschen woll(t)en nicht – der Mensch, der Vogelstrauss.

Option 2

Mein Vater war überzeugt, dass der unvermeidbare System-Kollaps aus der Zeit heraus nicht erkennbar ist – wer in einer noch so verrückten Welt lebt, kann ebendiese Welt unmöglich von aussen betrachten und fassen. Der Zusammenbruch findet nie da statt, wo man ihn erwartet und befürchtet. Der Mensch, das irrende Tier.

Option 3

Das ganze Geschreibsel aus dem Tag und für den Tag ist für die Katz. Der News-Konsum macht uns blind für das, was wirklich wichtig ist – am besten auferlegen wir uns eine No-News-Diät. Der Mensch, der News-Junkie.

War das meines Vaters Absicht und Eingebung? Ich weiss es nicht. Vielleicht hat er es selber nicht gewusst. Was ich aber weiss: Ich werde alle diese Magazine lesen, eins nach dem anderen. Und ich vermute, ich werde erkennen: Der Mensch ist ein irrender, newssüchtiger Vogelstrauss.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

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