Oh doch, es gibt allerhand zu berichten und zu bedenken im Rückblick auf den 1. Mai 2023. Zum Beispiel über die Bilanz der Zürcher Polizei: 19 Festnahmen wegen Landfriedensbruch und Sachbeschädigung. Oder über die Basler Vorkommnisse: Chaoten mit Pyrotechnik gegen die Polizei. Oder über den Aufmarsch in Bern: Teilnehmer einer unangemeldeten, also illegalen Demonstration inszenieren Chaos.
Auch Bilder aus allen drei Städten, links-grün regiert oder inspiriert, zeigen Gewalt – zum Ergötzen der Randalierer, zum Schrecken für die Bürger.
Verwundert es, dass die Jungsozialisten «Polizeigewalt am 1. Mai aufs Schärfste» verurteilen? Es müsste verwundern, eigentlich, werden damit doch Täter in Opfer verwandelt. Doch gerade das wiederum verwundert nicht: Juso-Logik eben, oder, mit einer Volksweisheit auf den Punkt gebracht: «Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.»
Aber was dann doch verwundert, ist die Reaktion der sozialdemokratischen Nationalrätin Tamara Funiciello, die zu den Ausschreitungen nichts sagen will: «Ich möchte darüber reden, was uns wichtig ist.»
Tamara Funiciello hat als Mitglied der Bundesversammlung folgendes Gelöbnis abgelegt: «Ich gelobe, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten meines Amtes gewissenhaft zu erfüllen.»
Nichts weniger!
Leider gilt das Bekenntnis für Funiciello inzwischen eher weniger, also nicht mehr uneingeschränkt, sondern – politisch relativiert – nur noch, «was uns wichtig ist». Die Wahrung der Gesetze zählt nicht zum Wichtigen der einstigen Juso-Präsidentin. Jedenfalls nicht in jedem Fall.
Man stelle sich den seelischen Aufruhr der linken Nationalrätin vor, wenn statt linker Randalierer rechte Randalierer durch die Strassen von Zürich, Basel und Bern gezogen wären, zum Beispiel SVP-Jugend, oder gar äusserste Rechte.
Da wäre aber was los! Aufschrei von Funiciello. Unverzügliche Gegenproteste; Mahnwachen von Kirchen und NGOs, was allerdings dasselbe ist; Verbotsforderungen für rechte Demos generell; Unterschriftenaktionen linksgrünintellektueller Patriarch*innen; Mobilisierung der journalistischen Aktivisten in Presse, TV und Radio.
Also all das, was nach Grenzüberschreitungen wie denen vom 1. Mai geboten ist – aber leider, leider nur denkbar, wenn die Rechtsbrüche dem rechten Rand angelastet werden können.
Verfassung und Gesetz – je nachdem.
Ja, so funktioniert links heute. Wie war es gestern?
Die Arbeiterbewegung sah sich als Bewegung des Rechts. Deshalb trennte sie sich vom linken Extremismus und entwickelte die sozialdemokratische Freiheitskultur, gesichert durch – ja, Verfassung und Gesetz.
Der 1. Mai wurde zum würdevollen säkularen Feiertag, Ausdruck der Sehnsucht nach einer freien und gerechten Gesellschaft – Bürgerlichkeit für alle.
Einen Gewinn an Erkenntnis brächte es, diese grosse Geschichte nicht allein auf den Schweizer Generalstreik 1918 und den Genossen Robert Grimm zu fokussieren, sondern sie zu erweitern auf den grossen europäischen Kampf um die Demokratie. Den Verharmlosern linksextremer Gewalt würde damit vor Augen geführt, dass es das Scheitern der Weimarer Republik, also den Nazitriumph 1933 und dessen weltschreckliche Folgen wohl kaum gegeben hätte ohne die Demokratiefeindschaft der Linksextremisten – der Kommunisten.
Dann sähe man auch die linke Spartakisten-Ikone Rosa Luxemburg plötzlich in einem anderen Licht: als Kämpferin für die Räterepublik – ein Traumgebilde, das sich unter der Herrschaft der russischen «Sowjets» als blutiger Albtraum entlarvte.
Als Totalitarismus mit Abermillionen von Opfern.
Aufseiten der Sozialdemokraten hingegen steht als leuchtendes Vorbild in finsterster Stunde Otto Wels. Der Reichstagsabgeordnete und Vorsitzende der SPD hielt am 23. März 1933 die mutigste Rede gegen die totale Herrschaft Hitlers durch das Ermächtigungsgesetz. Sein unsterblicher Satz: «Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.»
Kein einziger Parlamentarier aus den Parteien rechts der Mitte folgte ihm und stimmte mit Nein. Die 94 Sozialdemokraten waren im Reichstag die einzigen, die Hitlers Machtergreifung widersprachen. Ihrer Isolierung vorangegangen war das Komplizenspiel der Kommunisten mit den Nazis. Sie schmähten die Sozialdemokraten systematisch als «Sozialfaschisten» und verweigerten den gemeinsamen Kampf für die erste deutsche Demokratie.
Was hat diese Vergangenheit mit dem 1. Mai 2023 in der Schweiz zu tun?
Unsere Gegenwart ist geprägt von Krieg und Diktatur. Erneut wird um die westlichen Werte gerungen, die sich allesamt auf Freiheit reimen. Zu diesen Werten zählt auch die den Linken so sehr am Herzen liegende soziale Sicherheit.
Wem also partout nichts einfallen will zu den systematischen Rechtsbrüchen des 1. Mai 2023, der begeht Verrat an der sozialdemokratischen Geschichte – was im Falle von Tamara Funiciello, Tochter eines Fabrikarbeiters und einer Angestellten, ganz besonders bedauerlich ist. In Sardinien aufgewachsen, als Lagerarbeiterin sowie als Büro- und Serviceangestellte auch mit einfacher Arbeit vertraut, müsste ihr das grünlinke Vonobenherab im Grunde zuwider sein.
Wie links ist die linke Linke?
Die Frage lässt sich mit einer gerade gängigen Formel beantworten: der «kulturellen Aneignung», die – aus Genossen-Sicht moralisch verwerflich – das Hineinschlüpfen des «alten weissen Mannes» in fremde Identitäten bedeutet, zum Beispiel von «Indigenen».
So gesehen, hat sich die linke Linke die Identität der Arbeiterbewegung lediglich angeeignet. Wirklich links ist sie nicht.
Sie steht rechts.