Die Welt muss verrückt spielen, wenn man schon Baseball vermisst – den langweiligsten US-Sport überhaupt.
Im Schnitt dauert ein Spiel rund drei Stunden. Obwohl «Spiel» ist eigentlich schon zu hoch gegriffen. Meistens schauen fünfzehn Spieler dem «Pitcher» zu, der den Ball in die Handschuhe des «Catchers» wirft. Ab und an trifft der gegnerische Spieler mit dem Baseball-Schläger einen Ball – nur ganz selten ists ein Volltreffer.
Momentan wären wir hier in den Staaten mittendrin in der «Regular Season», also das Vorgeplänkel mit 162 (!) Spielen. Doch die «Major League Baseball» (MLB) muss sich wegen der Corona-Pandemie gedulden. Der Saisonstart vom 26. März wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
NHL, NBA, NFL – alles ist in Gefahr
Rick Telander, Sportjournalist der Chicago Sun-Times und Autor zahlreicher Sportbücher, verfasste im Juni 2012 einen Artikel über die Bedeutung des Sports in Amerika. Er begann seinen Text mit den Worten: «Eine Welt ohne Spiel und Spass ist nur schwer vorstellbar. Wenn man sich so eine Welt aber tatsächlich vorstellen kann, macht es keinen Spass, länger darüber nachzudenken.» Ob Telander eine weise Voraussicht hatte, was uns knapp acht Jahre später heimsuchen würde?
Heute leben wir in dieser trostlosen Welt. Die Basketball- (NBA) und die Eishockey-Liga (NHL) mussten vorläufig ausgesetzt werden – gut möglich, dass ganz abgebrochen wird. Auch die Fussball-Liga (MLS) und die Spielzeiten im American Football bei den Profis (NFL) und in den Colleges (NCAA) sind in Gefahr.
Auf den unzähligen Sport-Sendern wie ESPN und Co. laufen Wiederholungen in Dauerschlaufe. Die meisten Sport-Talkshows finden zwar noch statt, dort streiten sich die Experten aber geschlagene zwei Stunden lang über längst vergessene Partien und Skandale, die ansonsten keine Schlagzeile mehr wert wären.
Die Bedeutung des Profi-Sports in Amerika
Der Profi-Sport hat in den USA eine noch viel grössere Bedeutung als in der Schweiz. Fast jeder hier, ob Mann oder Frau, hat ein Lieblingsteam im American Football, Basketball oder Baseball. Der klassische Amerikaner in der Mittelklasse kann sich zwar kaum Ferien leisten, hat aber mit Sicherheit eine stolze Sammlung von Fan-Utensilien seines Lieblingsteams im Schrank.
Wenn das American-Football-Team in New Orleans ein Spiel gewinnt, erzählt die Frau am nächsten Tag stolz ihren Verwandten am Telefon vom Sieg. Gewinnen die Minnesota Wilds in der NHL, geht der Mann erhobenen Hauptes ins Büro. Verlieren die Los Angeles Lakers im Basketball, dann schlägt das den Angelenos aufs Gemüt.
Wie sehr die Amerikaner nach dem Profi-Sport lechzen, konnte man vergangene Woche beobachten. Der sogenannte NFL-Draft, also wenn die Football-Teams die besten Nachwuchsspieler vom College auswählen, erreichte Rekord-Einschaltquoten. Und das obwohl der Draft zum ersten Mal in seiner Geschichte virtuell durchgeführt werden musste.
Warum Sport heute so wichtig wäre wie nie zuvor
Baseball ist die letzte verbliebene Profiliga meines Wohnortes San Diego. Ein Fussball-Team hat es hier in der kalifornischen Wüste nie gegeben, geschweige denn ein Eishockey-Team in der NHL. Der American-Football-Verein zog vor einigen Jahren nach Los Angeles. Also ist San Diego zur Baseball-Stadt geworden. Bei Spieltagen der heimischen San Diego Padres blenden die Busse nicht etwa die nächste Station auf der elektronischen Anzeigetafel ein, sondern ein «Go Padres».
Gekümmert haben mich die Padres nie. Einmal war ich im Stadion und habe mir vom Kollegen die Regeln erklären lassen. Beim nächsten Bier hatte ich alles schon wieder vergessen. Ein netter Zeitvertrieb an einem Sonntag, mehr war Baseball für mich nie.
Doch in Corona-Zeiten vermissen wir Sportfans solche Wettkämpfe mehr denn je. Es sind die Emotionen, ob positiv oder negativ, die den Sport so einzigartig machen. Gerade jetzt wären Spiele ein willkommener Zufluchtsort, um der trostlosen Realität für einige Stunden zu entrinnen. Da würde ich mir sogar ein Baseball-Spiel der traditionell erfolglosen San Diego Padres liebend gerne zu Gemüte führen. Vielleicht auch deren zwei.