Stimmt so! Diese beiden Worte – begleitet von einem Lächeln – machen aus einem tieferen Rechnungsbetrag einen höheren, ohne dass sich jemand über das falsche Ergebnis der Addition beschweren würde. Denn die Aufrundung ist in etlichen Branchen und Ländern als Trinkgeld bekannt. Diese Mathematik der Freundlichkeit und Zufriedenheit ist allerdings immer weniger zu hören.
Das hat aktuell zwei Gründe: Einerseits zahlen seit der Corona-Pandemie deutlich mehr Menschen mit Debit- oder Kreditkarte – da muss man aktiv einen Tip veranlassen und kann nicht wie bei der Barzahlung elegant mit einem «Stimmt so!» auf das Rückgeld verzichten; andererseits sorgt die Inflation dafür, dass viele knapp bei Kasse sind und nicht mehr als den Rechnungsbetrag bezahlen wollen.
Weniger Trinkgeld wegen Kartenzahlung?
Zu Weihnachten publizierte der SonntagsBlick, dass Inflation und Bargeldrückgang Bettlern und Hilfsorganisationen zu schaffen machen. Und die «Süddeutsche Zeitung» berichtete unlängst, wie in deutschen Restaurants, Hotels, Frisörsalons und Taxis Trinkgelder massiv am Schwinden sind: «Die Sorge um die Preissteigerungen scheinen dieses gut eingeübte Ritual gerade zu kippen.» Ausserdem sei das Kartenlesegerät «ein natürlicher Feind der Mitarbeiter».
Wie fliesst das Trinkgeld zurzeit in der Schweiz? «Aus meiner Sicht sehe ich keine merkliche Veränderung», sagt Susanne Aregger (29), Restaurant-Managerin im Luzerner Hotel des Balances. Und Danilo Azzarito (36), Gründer und Inhaber vom Damen- und Herren-Coiffeursalon Liebevoll in Basel, sagt: «Aktuell konnte ich noch keine Veränderung wahrnehmen bis auf die steigende Kartenzahlung.» Vor Corona habe die Hälfte mit Karte bezahlt, jetzt über 90 Prozent – ohne Auswirkung aufs Trinkgeld.
Auch im Restaurant des Balances direkt an der Reuss zahlen die Gäste seit der Pandemie häufiger mit Karte – und hier erkennt Aregger doch Folgen für das Servicepersonal: «Bei kleineren Beträgen wird verhältnismässig eher etwas weniger gegeben als bei Gästen, die die Rechnung bar bezahlen.» Wer die Rechnung mit Karte begleiche, frage zudem meist nach, ob die Servicemitarbeitende das Trinkgeld bekomme und nicht der Betrieb.
Im Balances schaut man darauf, dass die Verteilung des Trinkgelds einigermassen im Gleichgewicht bleibt und auch die Mitarbeitenden im Hintergrund davon profitieren. So gibt jeder Stationskellner, jede -kellnerin ein Prozent des Tagesumsatzes ab, begrenzt auf 25 Franken.
Am Ende des Monats gehen davon 55 Prozent in die Küche und das Office, 15 Prozent bekommt der Chef de Service – zu gleichen Teilen Aregger und ihre zwei Stellvertreter. Azzarito von der Coiffure Liebevoll gibt sein jährliches Trinkgeld von etwa 4800 Franken Ende Jahr weiter: «Meine Mitarbeiterinnen bekommen es on top auf den Lohn ausbezahlt.»
Viele, die Trinkgeld geben, wollen wissen, wohin es geht. Das bestätigt eine kürzlich veröffentlichte Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. «Rund die Hälfte der Befragten will sicherstellen, dass das Trinkgeld direkt an die einkassierende Serviceperson geht», heisst es in der repräsentativen Befragung unter 1179 Personen in der ganzen Schweiz.
84,9 Prozent rund die Restaurantrechnung auf
Um das sicherzustellen, händigen 76,4 Prozent das Trinkgeld bar aus. Auch die Kartenzahlenden in der Deutschschweiz geben zu 22,6 Prozent Münz und Noten on top, in der Romandie sind es gar 40,2 Prozent. Denn: «In der Schweiz der mit Abstand häufigste Grund, Trinkgeld zu geben, ist das Zeigen von Dankbarkeit gegenüber dem Servicepersonal», heisst es in der Studie. Und das kann man nur im direkten Kontakt.
Obwohl im Schweizer Gastgewerbe der Service seit bald 50 Jahren – konkret seit dem 17. Mai 1974 – im Preis inbegriffen ist, erachten es gemäss dieser Befragung immer noch 84,9 Prozent für opportun, freiwillig einen Overtip zu geben. Denn das Trinkgeld hat eine lange Tradition und ist tief verwurzelt in den Menschen: Im deutschsprachigen Raum ist das Wort «dringelgelt» seit dem 14. Jahrhundert bezeugt, wie im «Deutschen Wörterbuch» (1854) der Brüder Grimm steht.
Zur Wortbedeutung heisst es dort: «Kleinere geldsumme für auszer der regel geleistete dienstverrichtungen, oder bei sonstigen besonderen anläszen, ursprünglich zum vertrinken, bibale; auch biergeld genannt.» In Russland und China heisst das Trinkgeld «Teegeld». Bereits in seinem Benimmklassiker von 1788 rät Adolph Freiherr von Knigge (1752–1796) «dem Wagenmeister ein gutes Trinkgeld zu geben».
Ursprünglich gab es für jede gut ausgeführte Dienstleistung einen finanziellen Zustupf. Doch heute läutet der Pöstler zweimal, legt das Paket vor die Tür und rauscht schon wieder ab – keine Zeit für eine persönliche Begegnung. Und im Museum nimmt einem nicht mehr eine Garderobiere den Mantel zur sicheren Verwahrung ab. Stattdessen stopft man ihn in ein Kästchen und benötigt den Zweifränkler für das Münzpfandschloss statt als Trinkgeld.
«In keiner anderen Situation ist das Geben von Trinkgeld in der Schweiz nur annähernd so geläufig wie in bedienten Restaurants», schreiben die Winterthurer Forscher. Mit 45,4 Prozent werde noch am häufigsten eine Dienstleistung im Bereich Beauty und Wellness – also etwa beim Coiffeur – mit Trinkgeld belohnt, gefolgt von Bars/Nachtlokalen mit 41,4 Prozent und Transportdienstleistungen wie Taxifahrten mit 40,5 Prozent.
Peter Hostettler (64) fährt seit über 30 Jahren für Nova Taxi durch Bern. Fahrgäste belohnen seine Dienste mit zusätzlich rund 400 Franken pro Monat. «Ich habe den Eindruck, das Trinkgeld ist in jüngster Zeit trotz Corona und Inflation etwa gleich hoch ausgefallen», sagt er, «aber die Stammkunden machen weniger Fahrten.» Dennoch erhält er immer noch mehr Tips von Einheimischen als von Touristen.
200 Franken für eine Fahrtaxe von 20 Franken
Beim Geschlecht erkennt Hostettler keinen Unterschied, sehr wohl aber Damen- und Herren-Coiffeur Azzarito: «Männer geben häufiger Trinkgeld, Frauen dafür grosszügiger.» Den höchsten Betrag, den er je erhalten habe, seien 200 Franken. «Das war in der ersten Woche nach dem Lockdown», sagt Azzarito. «Die Freude der Kundschaft, die Haare wieder pflegen lassen zu können, war so gross, dass sie uns die verpassten Termine wegen Corona bezahlen wollte.»
Das grösste Trinkgeld, das Taxifahrer Hostettler bisher bekam, waren 180 Franken – und das für eine Fahrtaxe von 20 Franken! Und auch Susanne Aregger vom Balances in Luzern hat ein solches Erlebnis. «Das war einmal, als ich noch in der Funktion als Chef de Rang tätig war», sagt sie. «Damals bekam ich 200 Franken von amerikanischen Gästen, die ein schönes Menü und dazu auserlesenen Wein genossen haben.»
Die Amerikaner haben eh ein besonderes Verhältnis zum Trinkgeld (siehe auch Kasten zu anderen Ländern). So zitiert der Berliner Markus Dobler in seiner 2009 an der Technischen Universität Dortmund (D) eingereichten Doktorarbeit zur «Trinkgeldkultur»: «Für die USA hat man das jährliche Aufkommen an Trinkgeldern allein in Restaurants auf immerhin 21 Milliarden Dollar geschätzt.»
Eine scheinbar enorme Summe, doch in den Vereinigten Staaten ist das Trinkgeld ein wesentlicher Lohnbestandteil, ohne den die Serviceangestellten nicht einmal auf den Mindestlohn kämen. Mit dem «Consolidated Appropriations Act 2018» veranlasste die US-Regierung, dass auch Hintergrundkräfte wie Köchinnen und Tellerwäscher in die Verteilung einzubeziehen seien.
Dabei haben die USA eine vergleichsweise kurze Trinkgeldtradition: Reisende Landsleute brachten die Sitte erst nach dem Sezessionskrieg (1861–1865) aus Grossbritannien nach Hause. Bereits um die Jahrhundertwende gab es eine Gegenbewegung, und einzelne Staaten stellten das «Tipping» unter Strafe. Seit spätestens 1926 gelten diese Gesetze nicht mehr, und Trinkgeld gehört in den USA zur sozialen Norm.
Auch im deutschsprachigen Raum gab es Ende des 19. Jahrhunderts Bemühungen, Trinkgeldzahlungen abzuschaffen. So schrieb der deutsche Jurist Rudolf Jhering (1818–1892): «Das Trinkgeldwesen ist in meinen Augen eine durch die Sitte organisirte Art der Bettelei. (…) Jeder Bettel aber setzt innere und äussere Demüthigung voraus; der sich seines Werthes bewusste Mann bettelt nicht (…).»
Freundlichkeit wichtiger als Leistung und Qualität
Ein gewisses «Master and Servant»-Verhältnis stellt auch Dobler in seiner Dissertation fest, wenn er unter den «Trinkgeldnehmer-Faktoren» ausführt: «Einem Menschen, den man als angenehm empfindet, ist man eher geneigt, mehr Trinkgeld zu geben, als einem anderen Menschen», und schliesst daraus: «Wer lächelt, erhöht seine Chance auf ein höheres Trinkgeld.»
Die aktuelle ZHAW-Studie bestätigt diese Aussage: Derzufolge ist «Freundlichkeit/Sympathie der Serviceperson» der wichtigste Faktor für die Höhe des Trinkgelds – erst danach folgen die «Leistung der Serviceperson» und die «Qualität des Essens». Die geringste Bedeutung hat gemäss dieser Befragung das «Aussehen der Serviceperson».
Bei den Gründen, weshalb Schweizerinnen und Schweizer in Restaurants überhaupt Trinkgeld geben, schwingt – wie eingangs erwähnt – die Dankbarkeit gegenüber dem Servicepersonal obenauf. Doch bereits der zweitwichtigste Grund lautet gemäss der Befragung: «Weil das Servicepersonal einen tiefen Lohn hat und auf das Trinkgeld angewiesen ist.»
Das sollte man immer bedenken, sei es im Restaurant, Taxi oder Coiffeursalon – oder falls man dem gestressten Päcklipöstler zufällig über den Weg laufen sollte.
5 bis 10 Prozent ist der Anteil einer Rechnung, den man in europäischen Ländern üblicherweise zusätzlich als Trinkgeld draufschlägt.
84,9 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer geben gemäss einer aktuellen Studie der ZHAW in einem bedienten Restaurant in der Regel ein Trinkgeld.
400 Franken Trinkgeld durchschnittlich pro Monat bekommen sowohl der vom SonntagsBlick-Magazin kontaktierte Taxifahrer in Bern wie der Coiffeur in Basel.
1974 schaffte die Schweiz das Trinkgeld im Gastgewerbe ab. Seither ist die Abgabe eines sogenannten Overtip eine freiwillige Angelegenheit zwischen Gast und Servicepersonal.
21’000’000’000 Dollar ist gemäss einer Dissertation von 2009 das geschätzte jährliche Aufkommen von Trinkgeldern in den Restaurants der Vereinigten Staaten.
5 bis 10 Prozent ist der Anteil einer Rechnung, den man in europäischen Ländern üblicherweise zusätzlich als Trinkgeld draufschlägt.
84,9 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer geben gemäss einer aktuellen Studie der ZHAW in einem bedienten Restaurant in der Regel ein Trinkgeld.
400 Franken Trinkgeld durchschnittlich pro Monat bekommen sowohl der vom SonntagsBlick-Magazin kontaktierte Taxifahrer in Bern wie der Coiffeur in Basel.
1974 schaffte die Schweiz das Trinkgeld im Gastgewerbe ab. Seither ist die Abgabe eines sogenannten Overtip eine freiwillige Angelegenheit zwischen Gast und Servicepersonal.
21’000’000’000 Dollar ist gemäss einer Dissertation von 2009 das geschätzte jährliche Aufkommen von Trinkgeldern in den Restaurants der Vereinigten Staaten.