Was darf man noch, was darf man nicht mehr? Gerade eben wurden Winnetou-Bücher aus dem Ravensburger Verlagsprogramm gestrichen, weil sie nicht politisch korrekt seien: Sie wurden vom weissen deutschen Schriftsteller Karl May (1842–1912) statt von einem amerikanischen Ureinwohner geschrieben. Und man fragt sich: Was kommt als Nächstes? Könnten sich Paraplegiker «unwohl» fühlen, weil in «Heidi» eine Figur vorkommt, die im Rollstuhl sitzt? Darf man seinen Kindern nicht mehr Otfried Preusslers «Kleiner Wassermann» vorlesen, weil Otfried Preussler selbst kein Fisch war? Darf man «Drei Chinesen mit dem Kontrabass» singen, ohne sich wegen der Antirassismus-Strafnorm schuldig zu machen?
Warum ist das alles plötzlich ein Thema? Und, auch wichtig: Darf man solche Fragen überhaupt stellen, oder ist man dann schon total daneben? Haben die «Woke Warriors» recht oder ist das alles totaler Irrsinn? Blick versucht, Licht ins Dunkel zu bringen.
Woher das plötzlich alles kommt
Die Anfänge der Woke-Bewegung sind historisch begründet, und man kennt die grauenvolle Geschichte: weisse US-Siedler, Massenmord an den Ureinwohnern, Landraub und die generationenlange Zwangsbewirtschaftung dieses Landes durch entführte und versklavte Afrikaner. Bis heute existiert in den USA struktureller Rassismus. Als 2014 der unbewaffnete schwarze 18-jährige Michael Brown in Ferguson im Bundesstaat Missouri von einem weissen Polizisten erschossen und das Verfahren gegen diesen eingestellt wurde, entstand die «Black Lives Matter»-Bewegung. Sie richtet sich gegen strukturellen Rassismus und statistisch belegbare Ungerechtigkeiten der Polizei gegenüber schwarzen Amerikanern. Seither steht die «Woke»-Bewegung zunehmend auch für die Rechte anderer belegbar unterdrückter Minderheiten ein, etwa für Transmenschen oder Missbrauchsopfer.
Wo sich «woke» gerade ins Gegenteil verkehrt
Für viele nimmt aber der Aktionismus, der Minderheiten schützen soll, absurde Züge an. Das zeigen die Debatten und Kommentarspalten, die zu den einzelnen Vorfällen geführt werden. So sollte letztes Jahr das Gedicht der schwarzen Amerikanerin Amanda Gorman ins Niederländische übersetzt werden. Der Verlag fragte eine Übersetzerin an, die den Booker-Preis für eine andere Übersetzung gewonnen hatte – und erntete einen Shitstorm: Die Übersetzerin war weiss und durfte deshalb nicht übersetzen.
Als sich die britische Philosophie-Professorin Kathleen Stock (49) äusserte, Geschlecht sei biologisch bedingt, wurde sie als «transphob» gebrandmarkt, erhielt unzählige Morddrohungen, ein vermummter Mob verfolgte sie an der Universität. Sie trat schliesslich zurück.
Nicht ganz so schlimm, aber auch beträchtlich war der Wirbel um die Band Lauwarm, die in der Berner Brasserie Lorraine ihr Konzert abbrechen musste. Mittlerweile steht auch die Perücke von Clownin Nadeschkin in der Kritik. Und alle Jahre wieder wird diskutiert, ob man Kinder an der Fasnacht als Mexikaner mit Sombrero oder als andere Nationalität verkleiden darf oder nicht.
Auch die Literatur ist nicht ausgenommen von der Säuberungswelle: Britische Universitäten streichen Werke der Weltliteratur – darunter von Shakespeare, Colson Whitehead oder Strindberg – aus ihren Leselisten, weil sie Inhalte wie Sklaverei oder Suizid behandeln und die «Gefühle» von Studierenden verletzen könnten.
Gut Gemeintes kippt in Nazi-Ideologie
Für Steven Pinker (67), Professor für Linguistik und Psychologie an der Universität Harvard und einer der weltweit einflussreichsten Intellektuellen, ist dies alles eine intellektuelle Bankrotterklärung: «Man findet in dieser Woke-Orthodoxie diese Vorstellung, dass jeder von uns einer Gruppe angehört, die durch ihr Geschlecht, ihre Rasse oder ihre Ethnie definiert ist. Dies macht schlimmstenfalls Anleihen an der Apartheid und am Nazismus», sagt er gegenüber dem französischen Magazin «L'Express». Auch die Verbannung von unliebsamen Büchern erinnere an die Nazi-Zeit. Im Hinblick auf Gender sagt Pinker, dass man sich die Daten anschauen müsse und keine von der Ideologie vorgefertigten Vorstellungen haben dürfe. «Wenn das als Verbrechen betrachtet wird, dann ist das für die Gesamtheit der akademischen Welt eine garantierte Katastrophe.»
Die Schweizer Universitäten sind immerhin noch weit davon entfernt, Bücher zu verbannen. Die Uni Zürich sieht im Moment keinen Anlass, diese Diskussion zu führen. Und die Uni Bern will bei ihren Studenten explizit «unabhängiges und freies Denken fördern».
Fazit: Als Normalbürger kann man sich durchaus fragen, ob es notwendig ist, Winnetou nochmals neu zu verfilmen und damit uralte Klischees neu zu bedienen. Oder ob man jetzt unbedingt Dinge anziehen muss, die für eine andere Kultur eine tiefe Bedeutung haben. Aber: Die Antwort gibt man selbst, man muss sie sich nicht vorschreiben lassen.
Als weisser Woke-Aktivist kann man sich fragen, ob man mit seinem Aktivismus wirklich der Sache dient oder eher dem Bedürfnis nachgeht, sich selbst als höhere moralische Instanz zu inszenieren. Und ob man nicht gerade jene Überheblichkeit praktiziert, die man eigentlich aus der Welt schaffen will. Heidrun Löb, Leiterin des Zürcher Museums Nonam (Nordamerika Native Museum), bringt dies so auf den Punkt: «Der optimale Umgang mit der Thematik wäre, indigene Menschen zu Wort kommen zu lassen, die sich seit Jahrzehnten mit diesen Themen auseinandersetzen. In all diesen Diskussionen vermissen wir das am meisten.»
Woke: Stammt aus dem afroamerikanischen Slang und ist eigentlich eine grammatikalisch falsch benutzte Vergangenheitsform von «awake», also wach. Heutzutage bedeutet es für die einen, sich gesellschaftlicher Missstände, insbesondere was Randgruppen betrifft, bewusst zu sein und aktiv etwas dagegen zu unternehmen. In den USA, woher das Wort stammt, zeichnet sich jedoch bereits eine Umdeutung ab: Dort kann das Wort bereits so benutzt werden, dass es abschätzig «Intoleranz gegenüber anderen Meinungen» bedeutet.
Trigger: In der Psychologie bedeutet dieses Wort einen äusseren Anlass, der eine Person mit posttraumatischer Belastungsstörung in den Zustand zurückversetzt, in dem die Traumatisierung stattgefunden hat. Das kann eine starke körperliche Reaktion wie Ohnmacht, Zittern oder unkontrollierbare Aggression auslösen. Mittlerweile wird der Begriff viel weiter und unspezifischer verwendet und kann ein generelles Unwohlsein aufgrund eines äusseren Anreizes bezeichnen.
Kulturelle Aneignung: Wenn eine dominante Kultur Errungenschaften einer anderen Kultur übernimmt, oder sozusagen «stiehlt», ohne sie dafür zu entschädigen, zum Beispiel in Mode oder Musik.
Cancel Culture: Die Praxis, unliebsamen Meinungen oder Menschen keine Plattform zu geben und Organisatoren und Institutionen dazu zu nötigen, sie von Veranstaltungen auszuladen oder sie zu boykottieren oder ihnen zu kündigen.
Identitätspolitik: Politisches Handeln, um einer spezifischen Gruppe von Menschen, oft Minderheiten, höhere Anerkennung zu verschaffen, ihre gesellschaftliche Position zu verbessern und ihren Einfluss zu stärken.
Woke: Stammt aus dem afroamerikanischen Slang und ist eigentlich eine grammatikalisch falsch benutzte Vergangenheitsform von «awake», also wach. Heutzutage bedeutet es für die einen, sich gesellschaftlicher Missstände, insbesondere was Randgruppen betrifft, bewusst zu sein und aktiv etwas dagegen zu unternehmen. In den USA, woher das Wort stammt, zeichnet sich jedoch bereits eine Umdeutung ab: Dort kann das Wort bereits so benutzt werden, dass es abschätzig «Intoleranz gegenüber anderen Meinungen» bedeutet.
Trigger: In der Psychologie bedeutet dieses Wort einen äusseren Anlass, der eine Person mit posttraumatischer Belastungsstörung in den Zustand zurückversetzt, in dem die Traumatisierung stattgefunden hat. Das kann eine starke körperliche Reaktion wie Ohnmacht, Zittern oder unkontrollierbare Aggression auslösen. Mittlerweile wird der Begriff viel weiter und unspezifischer verwendet und kann ein generelles Unwohlsein aufgrund eines äusseren Anreizes bezeichnen.
Kulturelle Aneignung: Wenn eine dominante Kultur Errungenschaften einer anderen Kultur übernimmt, oder sozusagen «stiehlt», ohne sie dafür zu entschädigen, zum Beispiel in Mode oder Musik.
Cancel Culture: Die Praxis, unliebsamen Meinungen oder Menschen keine Plattform zu geben und Organisatoren und Institutionen dazu zu nötigen, sie von Veranstaltungen auszuladen oder sie zu boykottieren oder ihnen zu kündigen.
Identitätspolitik: Politisches Handeln, um einer spezifischen Gruppe von Menschen, oft Minderheiten, höhere Anerkennung zu verschaffen, ihre gesellschaftliche Position zu verbessern und ihren Einfluss zu stärken.