Mit der linken Hand nimmt er eine Haarsträhne seiner Kundin zwischen die Finger, während er mit einer feinen Stricknadel, die er in der rechten Hand hält, mit schnellen Bewegungen immer wieder in die Strähne sticht und so die einzelnen Haare nach und nach verknotet. Zeigefinger und Daumen der linken Hand sind mit weissem Tape umwickelt. «Als Schutz vor dem spitzigen Hööggli», sagt Marc Mächler (39), der in seinem Wohnzimmer in Zürich steht und der jungen Frau Dreadlocks macht.
Der Biologe und Sek-Lehrer ist Gründer von Dreadlocks-Artesanal. Ein Team aus fünf bis sechs Personen, die in der Schweiz seit über zehn Jahren Dreadlocks machen und sich als die Experten auf ihrem Gebiet bezeichnen. Mächler hat seine Dreadis, wie er sie nennt, seit er 21 ist. «Mir haben damals Frauen mit Dreadlocks gefallen, und ich wollte dazugehören», sagt er. «Heute betrachte ich meine Dreadlocks als meine Wurzeln. Sie heben mich von anderen ab.»
Gecancelte Reggae-Musiker
Kürzlich sorgten die Filzlocken im Zusammenhang mit kultureller Aneignung für Diskussionen. Die Reggae-Band Lauwarm musste Ende Juli ihren Auftritt in der Brasserie Lorraine in Bern abbrechen. Der Grund: Manche Besucherinnen und Besucher fühlten sich unwohl, weil zwei Bandmitglieder als weisse Männer Dreadlocks hatten und Reggae-Musik spielten. Ein paar Wochen später sagte die Zürcher Gleis-Bar das Konzert von Mario Parizek ab, weil der österreichische Musiker Rastas trägt. Aufgrund der entfachten Debatte geriet auch das Komiker-Duo Ursus & Nadeschkin in die Kritik – wegen der blonden Perücke mit Rastazöpfen, die Nadja «Nadeschkin» Sieger (53) jeweils auf der Bühne trägt.
Mächler versteht die Aufregung nicht: «Als Biologe betrachte ich die Thematik von der naturwissenschaftlichen Seite her: Haare sind von Natur aus so aufgebaut, dass sie verfilzen. Sofern man sie wachsen lässt und nicht kämmt.» Er verhelfe seinen Kundinnen und Kunden lediglich zu gleichmässigen Dreads. Die Filzlocken seien von vielen verschiedenen Religionen geprägt worden, fügt er an. Das bestätigt Lisa Johnson (33), Ethnologin mit den Forschungsschwerpunkten Musik und Migration in Jamaika und Nordamerika an der Uni Trier (D): «Verfilzte Haare gibt es seit Jahrtausenden in diversen Kulturen auf der ganzen Welt», sagt sie.
Filzlocken als religiöses Symbol im Hinduismus oder Islam
Bei den Sufis im Islam lassen die Priester ihre Haare zu langen, verfilzten Zöpfen wachsen, als Zeichen der göttlichen Hingabe. Im Hinduismus tragen die heiligen Männer namens Sadhus Filzlocken, die Jatta genannt werden. Sadhus verzichten auf alles, was vergänglich ist. Dazu gehört auch das Haareschneiden. Dadurch verfilzen die Strähnen über die Jahre.
Weitere geschichtliche Belege von verfilzten Haaren stammen aus der Antike. In Griechenland, Ägypten und in anderen Teilen des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens galten sie als kulturelles und soziales Symbol. Ebenso in Australien, wo sie bei manchen indigenen Völkern verbreitet waren. Im präkolumbianischen Amerika wurden sie oft mit Schamanismus in Verbindung gebracht und repräsentierten die Stärke der Krieger. Der berühmte Cree-Häuptling Pitikwahanapiwiyin (1842–1886) trug seine Haare als lange Filzzöpfe.
Seit den 1930er-Jahren wurde die filzige Haarpracht besonders stark von der schwarzen Bevölkerung auf Jamaika geprägt. Sie waren eine kleine Minderheit in der sozialen Unterschicht, die aufgrund des Kolonialismus unterdrückt wurde. Im Kampf gegen die Diskriminierung entstand die Bewegung der Rastafari, deren Anhänger oft Filzlocken tragen.
«Cancel Culture wird der Vielschichtigkeit der Kultur nicht gerecht»
«Das Wort Dread, auf Deutsch Furcht, kam in der Sprache der Rastafari damals sehr häufig vor», sagt Johnson. Daraus habe sich der Begriff Dreadlocks entwickelt. «Er steht für eine bestimmte Art und Weise, die verfilzte Haartracht zu tragen», so die Ethnologin. «Dreadlocks sind ein Symbol des schwarzen Liberalismus und der Zugehörigkeit zur Rastafari-Philosophie.»
Es hätten jedoch längst nicht alle Rastafari Dreadlocks, sagt sie. Und nicht alle, die Filzlocken tragen, hätten eine Verbindung zur Rastafari-Bewegung. «Deshalb ist es problematisch, dass in der aktuellen Debatte um kulturelle Aneignung ein einziges Merkmal stereotypisch einer bestimmten Gruppe von Menschen zugeschrieben wird.» Die Generalisierung «Schwarze Kultur ist gleich Dreadlocks» sei falsch. «Die Cancel Culture wird der Vielschichtigkeit der Kultur nicht gerecht. Sie führt zu einer extremen Grenzziehung und Re-Essenzialisierung von Kultur und lässt der wichtigen Diskussion über Rassismus und Diskriminierung keinen Platz mehr», sagt Johnson.
Es werde ein statisches, homogenes Kulturverständnis geschaffen, das schon lange obsolet sei. «Kultur lebt vom Austausch, von transkulturellen Verflechtungen und von Solidarität und Wertschätzung», so die Ethnologin. Auch die Musik von Reggae-Sänger Bob Marley (1945–1981), der als Verfechter der Rastafari-Philosophie die Werte weltweit populär gemacht hat, sei aus einem Austausch mit Künstlern aus der ganzen Welt heraus entstanden.
Swiss-Pilotin mit Filzlocken
Zurück bei Mächler im Wohnzimmer. Die Haare der jungen Frau sind mittlerweile zu einem beträchtlichen Teil verfilzt. Seine Kundschaft sei viel diverser geworden. «Früher wollten hauptsächlich junge Leute aus der Goa- und Reggae-Szene Dreadlocks», sagt Mächler. «Heute kommen Pflegerinnen, Lehrer oder Wirtschaftsinformatiker zu mir. Einmal durfte ich sogar einer Swiss-Pilotin Dreadlocks machen.»
Die Bedeutung der Frisur sei von Person zu Person verschieden. «Viele finden Dreadlocks einfach schön. Einige haben sich von jemandem inspirieren lassen, und für andere haben Dreadlocks einen religiösen Hintergrund», so Mächler. Vergangene Woche sei eine Musikerin mit Dreadlocks bei ihm gewesen, die wegen der aktuellen Debatte verunsichert war. Mächler hat ihr gesagt, dass es okay sei, als Weisse Dreadlocks zu tragen. Verfilztes Haar sei kein geistiges Eigentum von jemandem.