Haben Sie die ewigen schlechten Nachrichten zum Klimawandel satt? Wollen Sie sich Ihre Flugreise nicht verbieten lassen? Finden Sie, dass eine Person allein sowieso nichts ausrichten kann und Sie deshalb Ihr Steak ohne schlechtes Gewissen auf den Grill schmeissen können? Sie sind nicht allein. Eigentlich sind Sie sogar einer von vier in unserer Gesellschaft existierenden «Stereotypen», die stets ähnlich argumentieren: Da gibt es neben den «Unbekümmerten» auch die «ganzheitlich» Denkenden, die «Technikfreudigen» und die sogenannten Informierten. Das wird in der heute neu eröffneten Ausstellung «Natur. Und wir?» im Stapferhaus in Lenzburg AG klar – und öffnet einem mit feinem Humor die Augen dafür, wie man selber so denkt und agiert.
Aber erst zum Ende. Zunächst entdeckt, wundert und staunt man sich durch eine Abfolge von acht Räumen – was zwar zunächst für ein so grosses Thema nach wenig klingt, es aber wirklich nicht ist. Denn die künstlerische Leiterin Sibylle Lichtensteiger (53) schafft mit ihrem Team eine Art magischen Trick, bei dem das Innere der Ausstellung viel grösser ist, als es von aussen scheint: Der gross angelegte Parcours, der unzählige Fragen zum Verhältnis Mensch–Natur aufwirft und einige auch beantwortet, haut einen aus den Socken.
Man erfährt vieles über ungewohnte Sinne – etwa Füsse oder Nase
Nicht nur sprichwörtlich, sondern auch ganz buchstäblich: Man zieht zu Beginn des Parcours Schuhe und Socken aus, desinfiziert sich die Füsse und macht den Rundgang barfuss, auf stets wechselnden Untergründen. So geht man etwa auf Sand oder Bodenplatten, die aus Pilzmycel bestehen. Und staunt, wie wenig wir den ausgezeichneten Tastsinn, über den wir in unseren Füssen verfügen, überhaupt gebrauchen – und was für ein Verlust das eigentlich ist. Und natürlich sind nur schon die Bodenbeschaffenheiten clever ausgesucht und verweisen auf unzählige Themen, die mit unserem Umgang mit der Natur zusammenhängen. So weckt etwa Quarzsand, über den man im Eingang geht, Feriengefühle, ist aber eigentlich ein begehrter Rohstoff für die Herstellung von Beton – so begehrt, dass in Asien bereits Mafiagruppierungen in kriegsähnlichen Zuständen um diese Ressource kämpfen. Oder dass Pilzmycele der wichtigste nachhaltige Baustoff der Zukunft sein könnten.
Es gibt aber natürlich sehr, sehr viel mehr zu entdecken: etwa wie ein Fuchs eine städtische Umgebung erlebt, was er dort hört, riecht und fühlt. Samt Begehung auf allen Vieren und olfaktorischen Eindrücken. Oder ein Raum, der nur unserem Mikrobiom gewidmet ist, also den Bakterien, Viren, Pilzen und Kleinstlebewesen, die wir ständig mit uns herumschleppen – und ohne die wir gar nicht leben könnten. Oder was geschehen würde, wenn man Landschaften oder Flüssen – gleich wie Menschen – Rechte zugestehen würde. Oder, oder, oder.
«Komplexe Themen ohne politischen Mahnfinger sinnlich erlebbar zu machen, ist für uns die grosse Aufgabe des Ausstellungmachens», sagt Sibylle Lichtensteiger. Das ist ihr in dieser faszinierenden Ausstellung gelungen. Genug Zeit einplanen!
«Natur. Und wir?» Ab 30. Oktober im Stapferhaus in Lenzburg.
Eintrittspreise und Öffnungszeiten: stapferhaus.ch