Wenn Margit Schwikowski zur Arbeit geht, muss sie sich warm anziehen. Draussen ist es diesen Winter zwar aussergewöhnlich warm, drinnen aber, im Eislabor des Paul-Scherrer-Instituts in Villigen AG, ist es minus 20 Grad. Wie jeden Tag des Jahres, rund um die Uhr. Denn hier lagern Eisbohrkerne aus aller Welt. Eisbohrkerne sehen aus wie überdimensional lange Wasserglacés: Jedes Stück ist zylinderförmig und 70 Zentimeter lang.
Die Forscherin, in dicker Daunenjacke, Stiefeln und Handschuhen, hebt einen in durchsichtigen Plastik verpackten Eisbohrkern aus der Mongolei hoch. Das Gegenlicht der Leuchtstoffröhre scheint durch das Eis. Es ist weiss und rein – und doch enthält es den Schatz, nach dem Schwikowski in Eisbohrkernen sucht, die sie überall auf der Welt sammelt: Spurenstoffe. Schon über 20 Expeditionen hat sie dazu unternommen. Die Wissenschaftlerin leitet das Labor für Umweltchemie am PSI. Bald wird sie auch wieder in der Schweiz bohren.
Das Eis erzählt, was die Menschen um 1400 anbauten
Die Eisbohrkerne im Eis sind wie Bücher, die Schwikowski aufschlägt, um in einem bestimmten Abschnitt der Menschheitsgeschichte oder der Erdgeschichte zu lesen. Anhand von Eisbohrkernen aus der Antarktis konnten Forschende zum Beispiel rekonstruieren, wie sich der Gehalt von Treibhausgasen in der Atmosphäre über die letzten 800'000 Jahre verändert hat. Die gefrorenen Archive verraten, dass die Gase in der jüngsten Vergangenheit nie dagewesene Konzentrationen erreicht haben. Über den Gehalt von Edelgasen wie Argon oder Neon in polaren Eisbohrkernen berechnen Forschende, wie warm die Ozeane vor Tausenden von Jahren waren. Russpartikel in der Luft zeigen wiederum den Zusammenhang zwischen Temperaturen und Waldbränden – und ermöglichen uns so einen Blick in unsere eigene Zukunft mit erwärmtem Klima.
Die gesamte Geschichte der Menschheit hat Spuren hinterlassen: Pollen verraten, was Menschen um 1400 anbauten. Schadstoffanalysen zeigen, ab wann und wie viel Blei die Römer herstellten, wie im Mittelalter immer mehr Blei gewonnen wurde und dass die Anti-Klopf-Mittel für Verbrennungsmotoren im 20. Jahrhundert die Luft mit Blei verpesteten. Eis lügt nicht: Sogar Abgasmanipulationen an Dieselmotoren verraten sich in zu hohen Nitrat-Konzentrationen in dem Gletscherarchiv. Doch dieses natürliche Eisarchiv verschwindet zunehmend, denn die Gletscher dieser Welt, aus denen Eisbohrkerne stammen, schmelzen.
Eis bohren, bevor der Gletscher weg ist
Nun will Margit Schwikowski in einem internationalen Projekt, dem sogenannten Ice-Memory-Project, zusammen mit anderen Wissenschaftlern dieses Archiv retten, bevor es zu spät ist. Viel Zeit bleibt nicht: Nur schon in der Schweiz wird bis 2050 die Hälfte der Gletscher weggeschmolzen sein. Initiiert von dem französischen Forscher Jerôme Chappellaz und dem Italiener Carlo Brabante sollen in dem Projekt Eisbohrkerne der am stärksten gefährdeten Gletscher überall auf der Welt entnommen und in der Antarktis eingelagert werden. So können kommende Generationen von Forschenden das Eis weiter untersuchen, selbst wenn die Gletscher verschwunden sind. Ein fünfköpfiger Leitungsausschuss für das Projekt steht bereits – Margit Schwikowski sitzt auch darin.
Unterstützt wird das Projekt durch verschiedene Stiftungen und Sponsoren, je nachdem, wo eine Bohrung durchgeführt wird. Eine eigene Stiftung für das Projekt ist laut Schwikowski in Planung. Die Anzahl der Bohrungen, die stattfinden sollen, steht noch nicht fest. «Im Moment sind wir ein loser Club von begeisterten Forschenden, die das Gletschereis retten wollen», sagt Schwikowski. An vier Orten wurden bereits Eisbohrkerne gebohrt: am Mont Blanc in Frankreich 2016, am Illimani in Bolivien 2017 und am Elbrus und am Belucha im Altaigebirge in Russland 2018.
Auf dem Grand Combin auf rund 4000 Metern über Meer
Als nächstes ist ein Gletschersattel am Grand Combin im Wallis an der Reihe, der auf eine Höhe von über 4000 Metern liegt. Das ist wichtig, denn tiefergelegene Gletscher, die schon schmelzen, sind für Eisbohrungen bereits verloren. Denn dort ist die Struktur im Eis durch Schmelzwasser schon so zerstört, dass die im Eis enthaltenen Informationen zeitlich nicht mehr präzise zugeordnet werden können. Wie wenn ein mit Tinte beschriebenes Papier ins Wasser fallen würde. Bereits eine Probebohrung sowie Radarmessungen hat das italienische Team der Ca’Foscari-Universität in Venedig auf dem Grand Combin durchgeführt. Die Universität finanziert zusammen mit dem italienischen Forschungsrat die Bohrung in der Schweiz. «Wir wissen jetzt, dass der Gletscher dort etwa 80 Meter dick ist», sagt Schwikowski. 80 Meter, das dürfte etwa 10'000 Jahren Geschichte entsprechen.
Das Alter des Eises lässt sich anhand der darin enthaltenen Spurenstoffe, zum Beispiel Russkonzentrationen, bestimmen. In der Höhe der Gletscher schwanken deren Konzentrationen in der Atmosphäre von Sommer zu Winter regelmässig und hinterlassen im Eis Spuren, ähnlich wie die Jahrringe der Bäume. Das kommt daher, dass im Sommer die Luftmassen aus dem Flachland oft höher aufsteigen, während sie im Winter häufiger in tieferen Lagen feststecken. Durch die Anzahl Schwankungen lässt sich das Alter abzählen. Wobei mit zunehmendem Alter die Jahresschichten immer dünner werden, weil das Eis durch die Last von oben horizontal wegfliesst – so bilden sich Gletscherzungen. «Die untersten fünf Meter des Gletschers enthalten etwa 9000 Jahre, die oberen 75 Meter nur noch 1000 Jahre», vermutet die 60-jährige Forscherin.
Schweizer Gletscher sind von Menschen geprägt
Die Gletscher in der Schweiz speichern ihre wertvollen Informationen zur Menschheitsgeschichte in Form von Spurenstoffen. Über die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre können sie allerdings nichts aussagen, da sie zu stark verunreinigt sind. Solche Informationen geben nur Eisbohrkerne aus antarktischen Gebieten oder Grönland. «Schweizer Gletscher sind durch die Menschen geprägt», sagt Schwikowski.
Eigentlich hätte die Eiskernbohrung auf dem Grand Combin schon letzten Oktober stattfinden sollen, wurde wegen schlechtem Wetter aber abgesagt. Nun soll im März ein zweiter Versuch gestartet werden. «Der Grand Combin ist ein relativ riskanter Berg. Es ist ein Berg, an dem sehr viele Bergsteiger verunglücken», erklärt die Forscherin. Riskant vor allem auch, weil die Forschungsgruppe mit dem Helikopter hochfliegt und damit keine optimale Höhenanpassung haben wird. Das achtköpfige Team besteht aus drei Forschenden des PSI, einem Bergführer, sowie vier italienischen Forschenden. Werde jemand zum Beispiel höhenkrank und sei wegen schlechtem Wetter keine Evakuierung per Helikopter möglich, sei auch ein Abstieg nicht machbar, so die Forscherin. Das will man nicht riskieren und wartet deshalb auf eine stabile Schönwetterlage. Zwei Wochen wird die Bohrung dauern, zwei 80 Meter lange Eisbohrkerne wollen die Forschenden in Stücken herausarbeiten.
Zwei Wochen im Zelt im Schneesturm
Zwei Wochen in Eis und Kälte, mit Zelten und Freilufttoilette: Das kann nicht jeder. Für Margit Schwikowski aber ist das im Vergleich zu anderen Expeditionen fast schon gemütlich. «Manchmal erleben wir in der Eiskernforschung auch lebensbedrohliche Situationen», sagt sie. Aber irgendwie scheint dies für sie mehr Herausforderung als Problem zu sein. Da war zum Beispiel die Bohrung in Patagonien im Jahr 2006. Bei blauem Himmel richtete ihr Forschungsteam dort das Zeltlager ein – mit Blick auf den Cerro Torre, den wohl berühmtesten Granitberg Südamerikas.
Dann kam der Schneesturm – und hielt 14 Tage an. «Wenn der Wind mit über 100 Kilometern in der Stunde an den Zelten zerrt, überlegt man sich schon, ob man die Expedition heil überstehen wird», erinnert sich Schwikowski. Und dann war das Eis, das sie bohren wollten, zu feucht: Es war bereits zu stark geschmolzen. Doch obschon klar war, dass das Resultat der Expedition mager sein würde, konnte das Team nicht einfach abbrechen, sondern musste zehn Tage auf dem Berg ausharren, bis der Sturm vorüber war. Weniger glimpflich erging es japanischen Kollegen Schwikowskis, deren Zelte während eines Sturms in Patagonien zerstört wurden, woraufhin sie in einer Eishöhle auf Rettung warten mussten.
Solche Risiken wollen Schwikowski und ihr Team im Wallis nicht eingehen. Die hölzernen Transportkisten sind gepackt, der meterlange Bohrer vorbereitet und die Forschenden bereit, sich warm anzuziehen. Ob sie im März aber wirklich bohren werden, ist noch ungewiss. Die Eisschmelze wartet währenddessen nicht: mit jedem Tropfen Schmelzwasser werden einige Jahre Geschichte ausgelöscht.
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