«Schau mal, dieses Täschli», sagt der eine Jugendliche zum anderen und zeigt in Richtung eines Typen mit langen Locken, der ein paar Meter abseits steht. Er ist in seinen Handybildschirm versunken – oder tut zumindest so. Um seine Schulter hängt eine Stofftasche mit einem Aufdruck in Regenbogenfarben, dem Symbol für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und andere Minderheiten.
Was jetzt folgt, ist ein Spiel, dessen Verlierer bereits feststeht. «Schönes Täschchen!», «Merci», «Bist du schwul?», «Geh bitte weg», «Willst du mal meine Muskeln fühlen?», «Nein», «Ich würde dir auch nicht raten, mich anzufassen». Er tut es dann doch, der vermeintlich Schwule. Er berührt den Jugendlichen an der Schulter, um ihn von sich wegzuschieben. «Rühr mich nicht an!», sagt dieser. «Wer denkst du, wer du bist, du Tunte!» Die PET-Flasche fliegt durch die Luft in Richtung Opfer.
Die Szene könnte sich an einem x-beliebigen Schweizer Bahnhof zutragen. Drei Schauspieler haben sie nachgestellt als Teil eines Kurses für Zivilcourage bei Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit. Er findet an einem Freitag im obersten Stock des Jugendkulturhauses Dynamo in Zürich im Rahmen von «Zürich schaut hin» statt. Das Ziel des Projekts der Stadt: Jeder soll sich ohne Angst vor physischer Gewalt oder dummen Sprüchen im öffentlichen Raum und im Nachtleben bewegen können, egal wie er aussieht, welches Geschlecht er hat und wen er liebt. Durchgeführt wird der Kurs von der Organisation Amnesty International, die sich für die Wahrung von Menschenrechten einsetzt.
15 Türsteher sorgen für Kontrast
Gekommen sind rund 15 Personen, der grösste Teil davon Frauen im Alter von rund dreissig Jahren. Einige der Teilnehmenden sind Sexualpädagoginnen, einige arbeiten mit verhaltensauffälligen Jugendlichen, ein paar in der Kommunikationsbranche. Zusätzlich nehmen nochmals rund 15 Mitarbeiter der Security-Firma teil, die an Konzerten und Partys des Dynamos als Türsteher arbeiten und für die Sicherheit des Publikums sorgen. Aus Diskretionsgründen wollen sie nicht mit erkennbarem Gesicht in den Medien erscheinen. Mit ihren bulligen Staturen, der schwarzen Arbeitskleidung, den Bärten bildet die Truppe einen Kontrast zum Rest der Gruppe, den man gut mit dem Adjektiv «woke» bezeichnen kann.
Das heisst, diese Menschen sind sensibilisiert darauf, soziale Ungerechtigkeit zu erkennen und zu bekämpfen. Und trotzdem strecken nur fünf der dreissig Teilnehmenden auf, als es darum geht, wer in einer Situation wie der Vorgeführten etwas unternommen hätte. Und sei es nur, indem er jemanden zu Hilfe geholt hätte.
Belästigungen im öffentlichen Raum sind in Zürich verbreitet. Das zeigt ein Meldetool, das die Stadtpräsidentin Corine Mauch (62) in Zusammenarbeit mit Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (51) initiiert hat. Auf Zuerichschauthin.ch können User seit Mai 2021 anonym Meldungen machen, wenn jemand sie verbal, körperlich oder auch «nur» mit Blicken belästigt hat, wenn ihnen jemand hinterherlief oder sie jemand anderen beobachtet haben, dem das geschah. Mehr als 1000 Meldungen gingen in einem Jahr auf dem Portal ein. Das sind durchschnittlich drei pro Tag.
«In zwei Jahren ist die gut!»
Es zeige sich, dass vor allem Belästigungen platziert würden, die vermeintlich als normal gelten, sagt Dayana Mordasini (44), Verantwortliche für Quartiersicherheit beim Sicherheitsdepartement und Co-Projektleiterin von «Zürich schaut hin». Typischerweise werde eine Frau von einem Mann mit Worten belästigt – unter der Woche, tagsüber auf der Strasse, am Bahnhof, im öffentlichen Verkehr. Die Meldungen auf Zuerichschauthin.ch sind für andere nicht einsehbar. Auf Anfrage erhalten Journalisten eine Auswahl.
Eine Userin schreibt: «Kurz vor 8 Uhr im Bus, ich muss arbeiten, und dieser ältere Herr starrt ununterbrochen. Grausam unangenehm, er versucht, Blickkontakt herzustellen. Einfach hässlich.» Eine andere: «Spruch über meine Tochter (13) von einem Handwerker zu seinen Kumpels: ‹In zwei Jahren ist die gut!›» Oder nochmals eine Meldung aus dem ÖV: «Als ich in den Bus wollte bei der Station, sagte ein Mann (40–50), ich (22) hätte einen fantastischen Körper. Ich fühlte mich sehr unsicher, wusste nicht, ob er weitergehen würde, und schämte mich, dass andere Passagiere dies hörten. Niemand sagte etwas. Danke für diese Webseite!»
Zürcher Meldetool auch für andere Städte interessant
Das Tool bietet gemäss Mordasini die Gelegenheit, eine belastende Erfahrung zu teilen, und stellt Informationen über rechtliche Möglichkeiten und Angaben zu Hilfsangeboten zur Verfügung. Bei strafrechtlich relevanten Fällen wird die Person, die eine Meldung macht, darauf hingewiesen, eine Anzeige machen zu können.
Vor allem gehe es darum, sagt Mordasini, sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum sichtbar zu machen und zu zeigen, dass es die Betroffenen störe. Plus: Auch wenn aufgrund der Anonymität ein gewisses Risiko für Falschmeldungen bestehe, so würden die Meldungen doch einen wichtigen Hinweis auf die Dunkelziffer bei Belästigungen geben. Dass diese nicht nur Zürich betreffen, ist naheliegend. Zurzeit prüfen Bern und Luzern, ob sie das Meldetool übernehmen, weitere Städte haben Interesse bekundet. In Zürich geht es im zweiten Jahr des Projekts darum, wie man Zeuginnen und Zeugen von Belästigungen dazu bringt, sich einzumischen.
Kitty Genovese und der Zuschauereffekt
Es gebe kein Rezept für zivilcouragiertes Handeln, sagt Michelle Meier, Verantwortliche für Erwachsenenbildung bei Amnesty International und Leiterin des Kurses im Dynamo, zu den Teilnehmern. «Aber es gibt Tricks, die es vereinfachen.» Einer davon sei, Täter zu siezen. «Das schafft Distanz.»
Gut zu wissen ist gemäss Meier auch, dass man oftmals nicht die einzige Person ist, die sich überlegt, in einer Situation einzugreifen. Doch je mehr ihr beiwohnen, desto eher denkt jeder: Jemand anderer wird schon helfen. Die amerikanischen Forscher John M. Darley und Bibb Latané haben diesen sogenannten Zuschauereffekt in den 60er-Jahren erforscht und nachgewiesen.
Ausschlaggebend war ein Mord, der die amerikanische Öffentlichkeit im Jahr 1964 in Aufruhr versetzte. Eine 29-jährige Frau namens Kitty Genovese wurde auf dem Weg zu ihrem Wohnhaus in New York City von einem Mann vergewaltigt und erstochen. Mindestens 38 Personen aus der Nachbarschaft hätten mitbekommen, dass sie in Not war, ohne dass ihr jemand zu Hilfe gekommen sei, schrieb die «New York Times». Später stellte sich heraus, dass nur zwei Zeugen den Überfall sahen, wovon einer die Polizei rief. Trotzdem wäre der Zuschauereffekt ohne den Vorfall nicht so ausgiebig untersucht worden.
Im Kurs für Zivilcourage lernen die Teilnehmenden anhand einer Übung, wie sie ihn durchbrechen und sich jemanden aus der anonymen Masse zu Hilfe holen können, um allenfalls gemeinsam einzugreifen. Das tun sie, indem sie mit dem Finger auf jemanden zeigen, ihm in die Augen schauen und laut «Du!» rufen. Das ist nicht unbedingt angenehm für denjenigen, der angeschrien wird, macht jedoch so wach wie ein doppelter Espresso.
Alles ist besser, als nichts zu tun
Bevor es überhaupt so weit komme, solle man, sagt Meier zu den Kursteilnehmern, zuerst einmal versuchen, die Situation richtig zu interpretieren und sich Fragen zu stellen wie: Gibt es Hinweise darauf, dass sich die involvierten Personen kennen oder zusammengehören? Ist eine Person in akuter Gefahr oder kann sie sich selbst helfen? Meier: «Sobald du das Gefühl hast, dich in Gefahr zu bringen, rufst du besser die Polizei.» Wer sich nicht in der Lage fühle, einzugreifen, könne auch auf eine betroffene Person zugehen, nachdem der Täter gegangen ist. «Fragt sie, wie es ihr geht, und sagt, dass euch leidtut, was geschehen ist. Das ist immer noch besser, als gar nichts zu tun.»
Am Ende des Kurses spielen die Schauspieler nochmals eine Situation nach. Sie spielt im Pausenraum einer Firma. Ein Mitarbeiter belästigt eine Kollegin, die neu ist. Es beginnt damit, dass er über seinen Chef motzt und dann zu ihr sagt: «Wenn du nicht hier wärst, wäre ich schon lange weg. Du bist unser Sonnenschein.» Sie lächelt verlegen. «Hast du einen Freund?», fragt er als Nächstes. «Nein, ich bin im Moment single», sagt sie zögerlich. «Ich weiss gar nicht, wie das möglich ist», sagt er.
Dann wendet er sich an den Kollegen neben ihm und zeigt ihm auf dem Handy Fotos der TV-Show «Der Bachelor». Es geht um die Brüste einer Teilnehmerin. «Die sind im Fall echt!» Dann sagt er zur Mitarbeiterin: «Willst du nicht mal beim ‹Bachelor› mitmachen? Oder sollen wir mal einen Bachelor-Tag im Büro machen? Wann gehen wir mal zusammen mittagessen?» Und so weiter.
Keine Chance gegen das perfekte Ekel
Die Teilnehmer des Kurses sollen jetzt intervenieren und das anwenden, was sie gelernt haben. «Ich finde es nicht okay, dass du solche Kommentare machst», sagt eine. «Mit dir würde ich auch nicht mittagessen wollen», sagt der Mitarbeiter. Die Kursteilnehmer haben keine Chance gegen den Schauspieler, der das perfekte Ekel wiedergibt. Er hört erst auf, als alle ausser ihm aufstehen und den imaginären Pausenraum verlassen.
Manch einer ist nach diesem Nachmittag wahrscheinlich mit einer Wut im Bauch nach Hause gegangen. Wut auf Menschen, die es überhaupt erst nötig machen, dass man Zivilcourage zeigen muss. Vielleicht auch Wut auf sich selbst aufgrund der vielen ähnlichen Situationen, die man schon erlebt hat, ohne etwas zu sagen.