Eines vorweg: Das hier soll keine Früher-war-alles-besser-Story sein. Und auch keine von oben herab geschriebene Analyse eines 45-jährigen Journalisten, der «die Jungen» nicht mehr versteht. Was Sie als Leserin oder Leser vielleicht trotzdem an der einen oder anderen Stelle herausspüren werden, ist ein gewisses Mass an Erstaunen über eine neue Generation, die ganz anders an popkulturelle Inhalte herangeht, als junge Erwachsene das früher getan haben.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Generation Z, um die es hier geht, wird das kaltlassen. Ihnen muss niemand erklären, wie sie ticken – im Gegenteil. Sie sind zwischen 1995 und 2010 geboren, zwischen 12 und 27 Jahre alt und so selbstbewusst wie ihre Vorgänger, die Millennials. Wahrscheinlich werden zumindest die Jüngeren unter den «Z-lern» diesen Text sowieso nicht lesen, weil sie mit traditionellem Musikjournalismus nichts anfangen können. Schon alleine die Länge passt nicht zu diesen mit Social Media aufgewachsenen Smartphone-Profi-Usern, die am liebsten schnell und in kleinen Portionen konsumieren.
Via Tiktok zum Beispiel. Das Videoportal ist seit 2020 die wichtigste Plattform für Musikentdeckung und wird gemäss dem US-Magazin «Billboard» einen ähnlichen Einfluss auf die Musikindustrie haben wie MTV in den 80er-Jahren. «Ich glaube, Fliesstext in seiner reinen Form ist einfach nicht mehr das, was zeitgemäss ist», sagte eine Redaktorin des Jugendkanals des Bayerischen Rundfunks in diesem Zusammenhang jüngst in einer Radiosendung über die Zukunft des Musikjournalismus.
Dass sich Rocker und Popper bekriegen, war vorvorgestern
Noch ungewöhnlicher wie die Art, wie sich die Generation Z über Pop informiert, ist ihre Haltung zur Unterhaltungsmusik selbst. Was bei älteren Generationen als extrem uncool galt, gehört heute zum guten Ton. Man hört «echli alles» – quer durch den Gemüsegarten.
Dass Musikgenres immer weniger wichtig werden, würden Marktforschungsstudien zum Hörverhalten seit einigen Jahren immer wieder von neuem bestätigen, sagt Michael Schuler, Musikleiter von SRF. Als 51-Jähriger hat er sich in seiner Jugend wie viele aus seiner Generation klar mit einem Musikstil identifiziert, nämlich Rock. «Wenn ich in der WG, in der ich gewohnt habe, mal Pop gehört habe, tat ich es heimlich mit dem Kopfhörer.» Rocker gegen Popper, Punks gegen Hippies, Hip-Hopper gegen Heavys … lange Zeit definierte sich die Poplandschaft förmlich durch die Feindschaften von Angehörigen verschiedener Stile.
Heute würden Jugendliche ganz selbstverständlich am Freitag an ein Indie-Konzert und am Samstag an eine Elektroparty gehen, sagt Schuler. Er war in die Neuausrichtung des Senders SRF Virus involviert, der Anfang Mai mit einem neuen Konzept auf Sendung ging, das sich explizit an Hörerinnen und Hörer aus der Generation Z richtet. Das widerspiegelt sich im Musikprogramm – einem Potpourri aus Songs von jungen Künstlerinnen und Künstlern mit auffallend kurzen Namen wie Iliras, Tashan, Kamrad, Dana oder Mabel.
Herzschmerz-Pop mit Identifikationspotenzial
Der meistgespielte Song von SRF Virus im August 2022, «Ausmacht», ist deutschsprachig und stammt von Emilio Sakraya (26) – Künstlername Emilio. Der Schauspieler trat als Teenager in den Verfilmungen der Hörspielserie «Bibi und Tina» auf. Jetzt macht er tanzbaren Herzschmerz-Pop, der auch mal seine Kindheit als Sohn einer alleinerziehenden Mutter thematisiert.
Er glaube, seine Generation suche sich Musik aus, die zur aktuellen Tagesstimmung passe, sagt Timo Meier, Musikplaner bei SRF Virus und als 25-Jähriger selbst Angehöriger der Generation Z. Möglich machen dieses Hörverhalten Streamingplattformen, auf denen fast jeder Song jederzeit zur Verfügung steht. Gemäss der James-Studie der Swisscom, die das Mediennutzungs- und Freizeitverhalten von 12- bis 19-Jährigen untersucht, hatten 59 Prozent der Schweizer Haushalte im Jahr 2020 einen Dienst wie Spotify abonniert. Timo Meier spricht oft vom «Vibe» eines Songs. «Mal ist man melancholisch, mal könnte man die ganze Welt umarmen. Die Musik muss einen dort abholen. Ob sie das mit Hip-Hop, Folk- oder House-Elementen tut, spielt keine Rolle.»
Oftmals vereinen die Stars der Generation Z verschiedene Stile in ihren Produktionen. Die texanische Sängerin Gayle (18) und ihr Song «Abcdefu» sei dafür ein gutes Beispiel, sagt Meier. Das Lied schaffte es mit einer Kombination aus Gitarrenklängen und elektronischen Beats auf Platz eins der Schweizer Charts. Andere Stars der Generation Z sind Lil Nas X (23), der in seinem ersten Hit Countrymusic und Rap zusammenbrachte, Dua Lipa (27), die mit Elton John eine Discoversion von «Cold Heart» einspielte oder The Kid Laroi (19) aus Australien, ein Rapper mit violetten Haaren, der singen kann wie Kurt Cobain.
Macht Billie Eilish etwas absolut Einzigartiges?
Ist doch toll, wie diese Generation dem Sound ihrer Eltern Tribut zollt, könnte man sagen. Doch das ist das Letzte, was junge Musikkonsumenten hören wollen. Wer sich schon mit Fans der kalifornischen Sängerin Billie Eilish (20) unterhalten hat – sie gilt als Ikone der Generation Z –, dem ist vielleicht aufgefallen, wie felsenfest viele von ihnen davon überzeugt sind, dass ihr Idol musikalisch etwas nie Dagewesenes macht.
Qualität und Originalität lassen sich Eilish nicht absprechen, doch ihre Songs klingen – und das ist legitim – ähnlich wie manche Songs aus der Vergangenheit. Die von Madonna aus der ersten Hälfte der 2000er-Jahre zum Beispiel, als sie sich ihre Alben noch vom französischen Elektro-Künstler Mirwais produzieren liess. Die «Z-ler» anerkennen zwar, dass es ein popkulturelles Erbe gibt, an dem sie sich bedienen, haben aber den Anspruch, etwas komplett Neues daraus zu machen.
Und wenn sich einmal ein alter Song in die Gehörgänge der Generation Z verirrt, dann ist meistens ein Tiktok-Video oder eine Serie dafür verantwortlich. «Nouveau Nostalgia» nennt die Firma Spotify dieses Phänomen in der aktuellen Ausgabe ihres «Culture Next»-Reports, der sich mit dem Hörverhalten der aktuellen Generation auseinandersetzt. «Nouveau Nostalgia» heisst so viel wie neue Nostalgie.
Wenn Céline Dion plötzlich hip ist
Prominente Beispiele von aufgewärmten Oldies sind Céline Dions Ballade «It's All Coming Back to Me Now», die Teil einer erfolgreichen Playback-Challenge im Netz war, und der Song «Running Up That Hill» der Britin Kate Bush aus dem Jahr 1985, der in der neuen Staffel von «Stranger Things» rauf und runter lief. Die Serie bescherte Bush fast dreissig Jahre nach ihrem Rückzug aus dem Musikgeschäft ihren ersten Top-Ten-Hit in den USA.
Das heisst aber nicht, dass sie jetzt auf einer zweiten Erfolgswelle surft. Und Céline Dions Konzerte werden nicht plötzlich von 20-Jährigen besucht. Diese alten Songs werden isoliert gefeiert – und landen auf den Streamingplattformen in den Playlists, mit denen die Angehörigen der Generation Z ihre Stimmungslagen regulieren. Dort reihen sie sich ein in die Songs der Ilira, Danas und Mabels als etwas, was irgendwie anders klingt.