Das steckt hinter dem Phänomen Lil Nas X
Er ist der erste offen schwule Pop-Superstar aus den USA

Lil Nas X macht alles, wovon Manager von Plattenfirmen einem homosexuellen Newcomer bisher abgeraten haben. Und ist damit im Moment so erfolgreich wie kein anderer Musiker.
Publiziert: 18.09.2021 um 21:25 Uhr
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Lil Nas X auf dem roten Teppich der MTV Video Music Awards vom 12. September. Das Kleid stammt von Versace.
Foto: Getty Images
Jonas Dreyfus

Er hat es wieder einmal getan: So ziemlich alles, was diejenigen, die er provozieren will, als «typisch schwul» bezeichnen. An den MTV Video Music Awards vom Montag, 13. September, schritt Lil Nas X breit grinsend in einer lavendelfarbenen Kreuzung aus Hosenanzug und Abendkleid über den roten Teppich des Barclays Centers in Brooklyn, New York. Die Kreation stammte von Versace. Montero Lamar Hill, wie der 22-Jährige gebürtig heisst, trägt bei Events fast ausschliesslich Extraanfertigungen des italienischen Modehauses. Mal sind sie pink, mal aus Leder, mal beides zusammen.

Oder er trägt fast gar nichts, wie auf der Bühne der Video Music Awards, wo er nach dem Gang über den roten Teppich in einem Glitzerhöschen zwei seiner Hits inmitten genauso halbnackter Tänzer spielte. Ausnahmsweise liess der 1,88 m grosse Afroamerikaner an dem Abend, an dem er die wichtigste Auszeichnung «Video des Jahres» gewann, seine Babybauch-Attrappe zu Hause. Mit ihr posiert er seit Wochen in den sozialen Medien, um für sein «Baby» zu werben, das am 17. September zur Welt kam. Gemeint ist das Album «Montero».

Lil Nas X ist omnipräsent. Wem sein Name kein Begriff ist – eine Anlehnung an die Rap-Legende Nas – wird höchstwahrscheinlich den Song schon einmal am Radio gehört haben, der ihn vor zwei Jahren berühmt machte: «Old Town Road». Über einen schleppenden Hip-Hop-Rhythmus, den Lil Nas X für 30 Dollar auf einer Online-Börse für Beats erstand, rappt er mit seiner unglaublich tiefen Stimme über ein imaginäres Cowboy-Leben als Synonym für einen Lifestyle jenseits der Norm. Wobei «rappen» nicht unbedingt die eindeutige Bezeichnung für diesen Singsang ist. Und lässt sich das noch als Hip-Hop bezeichnen, wenn der Protagonist im Video zum Song zu Banjo-Klängen auf einem Pferd reitet?

Auf Platz eins der Schweizer Jahreshitparade

Diese Ambivalenz führte dazu, dass «Old Town Road» in den amerikanischen Billboard-Charts in der Sparte Country landete und es dort relativ weit nach oben schaffte. Das passte offenbar nicht allen Fans der amerikanischen Volksmusik. Dass Billboard sich dem Druck beugte und den Song nachträglich wieder aus der Country-Hitparade nahm, hätte Lil Nas X zur tragischen Figur eines Newcomers machen können, der den Durchbruch knapp verpasst hat.

Doch: «Old Town Road» ist zwar schnell produzierte und auf die sozialen Medien zugeschnittene Ware, in seiner Struktur aber ein verdammt guter Song. Das muss dem Country-Star Billy Ray Cyrus aufgefallen sein, bekannt als Interpret des 90er-Jahre-Hits «Achy Breaky Heart» und Vater von Miley Cyrus. Er spielte «Old Town Road» mit Lil Nas X nochmals neu in einer Duett-Version ein. 19 Wochen stand sie auf Platz eins der Billboard-Charts – dieses Mal in der Pop-Sparte. Das ist so lange wie kein Song in der Geschichte der amerikanischen Charts zuvor. 14 Mal wurde er mit Platin ausgezeichnet. Auch das ist ein Rekord. In der Schweiz stand «Old Town Road» 2019 auf Platz eins der Jahreshitparade.

Er habe eigentlich angenommen, dass er es ziemlich offensichtlich gemacht habe, schrieb Lil Nas X auf der Social-Media-Plattform Twitter kurz nach seinem Durchbruch. Sprich: Dass er sich keine Mühe gegeben habe, seine Homosexualität zu verstecken. Dazu postete er ein Bild, auf dem er auf einem Pferd einer regenbogenfarbenen Skyline entgegenritt.

Elton John singt auf dem neuen Album

So selbstverständlich wie für ihn selbst, so aussergewöhnlich war das Coming-out für die Verhältnisse in der Musikbranche. Dass ein afroamerikanischer Künstler seines Kalibers, der seine Wurzeln im Rap und Hip-Hop hat, zu Beginn seiner Karriere klipp und klar dazu steht, schwul zu sein – das gab es so noch nie.

Selbst grossen offen schwule Popstars aus Europa, allen voran Elton John, gaben zu Beginn ihrer Karrieren noch vor, auf Frauen zu stehen. Klar: Elton John, der auf dem Album von Lil Nas X zu hören ist und mit ihm in einer aktuellen Werbung auftritt, startete in einer anderen Zeit durch. Dennoch macht Lil Nas X alles, wovon Manager von Plattenfirmen schwulen Musikern bisher immer abgeraten haben. Das macht ihn zum ersten offen schwulen Pop-Superstar aus den USA.

Für Kinder ist er einfach ein lustiger Cheib

Eine Turnhalle in einer Kleinstadt im ländlichen Bundesstaat Ohio. Die ganze Primarschule ist hier versammelt, die kleinen Kinder starren gebannt in Richtung Bühne, auf der an diesem Tag ein Überraschungsgast angekündigt ist. Lil Nas X tritt auf. Er trägt ein züchtiges Jeans-Outfit und stimmt «Old Time Road» an. Der Saal explodiert, die Schüler singen lauthals mit, imitieren die Tanzbewegungen, die sie aus dem Video zum Song kennen.

Die Szene stammt aus einem Video, das Lil Nas X ins Netz stellte. Kinder kriegen von seinen expliziten Anspielungen nichts mit. Für sie ist er einfach ein lustiger Cheib, der bunte Klamotten trägt und Liedchen herausbringt, zu denen sie mitsingen können. Das ist wohl auch das Geheimnis des Erfolges von Lil Nas X: Seine Musik funktioniert generationsübergreifend. Vom Teenager, der Hip-Hop hört, bis zur amerikanischen Hausfrau, die eine Schwäche für Country-Pop hat. Er hat für jeden etwas im Angebot. Für diejenigen, die ihn anfeinden, ein freundliches Lächeln.

So einfach war es dann doch nicht

«Wenn ich ehrlich bin, wollte ich das Geheimnis mit ins Grab nehmen», sagte Lil Nas X in einem Interview mit der britischen Zeitung «The Guardian» über seine Kindheit und Jugend, die er in einer ländlichen Gemeinde in Georgia verbrachte. Er habe schon damals gemerkt, dass er anders war, und sah, wie sehr Schüler, die sich als schwul zu erkennen gaben, an seiner Schule leiden mussten. Heute wolle er die LGBT-Gemeinschaft zu 100 Prozent repräsentieren, sagt er, aber niemand Jungen aktiv zu einem Coming-out ermutigen.«Für mich ist es einfacher», sagt er. «Ich bin von niemandem abhängig. Niemand schmeisst mich deswegen aus dem Haus.»

Im Video zu «Montero» tanzt er in Lackstiefeln auf dem Schoss des Teufels. Sein Vater schrieb ihm auf Twitter eine Nachricht im Stil von: «Lieber Sohn, ich habe es geschafft, das Video bis zum Schluss zu schauen.» Das ist zwar mit einem Augenzwinkern gemeint, aber auch ein Zeichen dafür, dass «untypisch» männliches Verhalten etwas vom Letzten ist, mit dem ein Popstar heute noch so richtig provozieren kann.

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