Letzigraben statt Letzigrund – und die 100-Meter-Läufer bei Weltklasse Zürich würden am 9. September mit ihren 35 bis 40 Stundenkilometern eine Tempolimite überschreiten. Denn auf der Strasse gleich in der Fortführung des Leichtathletikstadions ist seit geraumer Zeit eine 30er-Zone. Und Mitte Juli gab der Stadtrat bekannt, dass diese Begrenzung bis 2030 auf den meisten Strassen gelten soll.
«Die Städte geben Gas beim Bremsen», titelte der Blick kürzlich. Denn nicht nur Zürich setzt auf Verkehrsberuhigung: In Basel und Luzern ist schon mehr als die Hälfte des Strassennetzes verkehrsberuhigt, in Bern zwei Drittel. Freiburg will auf mindestens drei Vierteln des Stadtgebiets 30er-Zonen schaffen, Genf praktisch flächendeckend. Das setzt Lausanne als erste Schweizer Stadt bereits ab September in die Praxis um – zumindest während der Nacht.
Das Primat des Autos ist vorbei
Willkommen im Stadtrennen mit gleich langen Spiessen! Auf Bahn 1: das Auto! 2: der öffentliche Bus! 3: das Motorrad! 4: das E-Bike! 5: das Trottinett! 6: das Velo! 7: der Fussgänger! Zugegeben: Nicht jeder ist zu Fuss so schnell wie die Sprinter bei Weltklasse Zürich, aber wenn man reine Fussgänger- und Begegnungszonen einrechnet, in denen Tempo 20 gilt, ist nicht mehr so sicher, wer zuerst ans Ziel kommt.
Noch vor 50 Jahren gab es eine klare Hierarchie der Verkehrsteilnehmenden: Die Strassenplanung war primär auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtet, Autos brausten mit 60 Stundenkilometern durch Quartierstrassen. Und in Zürich wollte man mit dem sogenannten Ypsilon sogar Autobahnen mitten in der Stadt verknüpfen. Velofahrenden und Fussgängern blieben bloss schmale Trottoirs.
Das Primat des Autos ist in der Schweiz vorbei. Und durch die Drosselung der Geschwindigkeit innerorts auf «generell 50» im Jahr 1984 und nun vermehrt auf 30 Stundenkilometer sinkt die Zahl der Verkehrstoten landesweit massiv: Waren es zur Spitzenzeit 1971 noch 1773, so sind es letztes Jahr 227. Gewiss, viele überleben heute wegen neuer Fahrzeugtechnik wie dem Airbag. Aber auch die Zahl getöteter Fussgänger (als Teil aller Verkehrstoten) geht von 1975 bis 2020 stark zurück: von 309 auf 36.
Lärmschutz steht im Vordergrund
So wenige wie noch nie! Das dürfte allerdings auch damit zu tun haben, dass während des Lockdowns letztes Jahr viel weniger Leute auf Strassen unterwegs waren. Monika Litscher (45), Geschäftsführerin von Fussverkehr Schweiz, weist denn auch darauf hin, dass die Zahl der Fussgängerunfälle schweizweit seit Jahren stagniert. «Das Schlüsselkriterium für eine Erhöhung der Sicherheit für Menschen zu Fuss ist die Geschwindigkeitsreduktion», sagt sie.
Zwei Drittel aller Fussgängerunfälle sind bei einer Tempolimite 30 statt 50 vermeidbar: Das zeigt eine Hochrechnung aufgrund der letztjährigen Daten des Projekts «GEHsund», für das man 16 Städte miteinander verglich. «Untersuchungen zeigen zudem, dass sich mit Tempo 30 weitere positive Auswirkungen für Menschen zu Fuss wegen des Wegfalls von Umwegen, weniger langer Wartezeiten beim Queren der Strasse und höherer Aufenthaltsqualität auf dem Trottoir ergeben», so Litscher.
Kürzere Wartezeit und höhere Aufenthaltsqualität sind allerdings nicht die obersten Ziele der aktuellen 30er-Zone-Offensive der Schweizer Städte. Vielmehr geht es um ein Versäumnis: 1987 erteilte der Bund den Kantonen und Gemeinden einen Auftrag, bis 2018 geeignete Massnahmen zu ergreifen, um 1,6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner vor zu hoher Lärmbelastung zu schützen. Geschehen ist wenig.
Eine Ausbremsung des ÖVs befürchtet
Temporeduktionen erweisen sich aktuell als wirksamstes Mittel. «Bei Tempo 30 anstelle von 50 km/h lassen sich je nach effektiv gefahrener Geschwindigkeit, Lastwagenanteil und Strassenbelag Reduktionen der Lärmpegel von zwischen ca. 2 Dezibel und 4,5 Dezibel erzielen», steht in einer 2017 veröffentlichten Studie des Schweizerischen Verbands der Strassen- und Verkehrsfachleute (VSS), die das Bundesamt für Strassen (Astra) beantragte.
Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) erklärt, das entspreche einer hörbaren Halbierung des Verkehrs. Die Verminderung des Lärms hänge einerseits mit dem geringeren Tempo zusammen, andererseits aber auch damit, dass die Automobilistinnen und Automobilisten konstanter fahren, weniger oft und weniger lang bremsen oder beschleunigen. Dadurch entstehe ein flüssigerer Verkehr.
Anders sieht das – zumindest im letzten Punkt – Carmen Walker Späh (63), Zürcher FDP-Regierungsrätin und Vorsteherin der Volkswirtschaftsdirektion. Sie befürchtet, dass flächendeckende 30er-Zonen öffentliche Verkehrsmittel – insbesondere Busse – ausbremsen. «Das ist gut vorstellbar, müsste aber im Detail angeschaut werden», sagt dazu Kay W. Axhausen (62), Professor für Verkehrsplanung und Transportsysteme an der ETH Zürich.
E-Scooter mit 52 Stundenkilometern
Eine Studie der wirtschaftsfreundlichen Denkfabrik Avenir Suisse kommt allerdings schon 2018 zum Schluss, dass der ÖV in Schweizer Städten die Tempolimite von 30 Stundenkilometern kaum je ausreizt. Für Spitzenreiter Zürich errechnen die Forscher eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 10,4 Stundenkilometern, bei Schlusslicht Lugano sind es gar nur 5,6 Stundenkilometer. Fazit: «Wenn man fit zu Fuss ist, bietet der ÖV in Lugano keinen zeitlichen Vorteil.»
Zielstrebige Fussgänger, zögerlicher Motorverkehr: Ist das Tempo in 30er-Zonen insgesamt gemächlicher? «In der Vergangenheit ja», sagt Axhausen, «aber mit den E-Bikes ist das schwer zu sagen – man wird sehen, was die Radfahrer tun.» Tatsächlich sind es in verkehrsberuhigten Gebieten häufig E-Bikes, auch E-Scooter, die sich nicht ans Tempolimit halten – erst Ende Juli stoppte die Polizei in Illnau-Effretikon ZH einen Fahrer auf einem frisierten elektronischen Trottinett mit 52 Stundenkilometern.
Das mag ein Ausreisser nach oben sein, doch Monika Litscher von Fussverkehr Schweiz ist alarmiert: Sie stellt eine mögliche Tachopflicht für schnelle E-Bikes zur Diskussion. Und Pro-Velo-Präsident und SP-Nationalrat Matthias Aebischer (53) hält fest, dass sein Verband mit seinen Partnern jährlich rund zwei Millionen Franken für Fahrkurse und Sensibilisierungskampagnen einsetze, damit sich alle Verkehrsteilnehmenden ans Tempolimit hielten. «Wer dies nicht tut, muss mit einer Busse rechnen, egal mit welchem Verkehrsmittel man unterwegs ist», sagt Aebischer.
Verkehrsteilnehmende können kommunizieren
Tempoüberschreitungen sind für manche ein Kavaliersdelikt, doch der Automobil Club der Schweiz (ACS) sieht vor allem die Sicherheit gefährdet, wenn in verkehrsberuhigten Zonen Velofahrende teils schneller unterwegs seien als Autos. «Wenn dem wirklich so ist, muss man sehen, ob die Unfallzahlen steigen», sagt Axhausen nüchtern dazu.
Die Hierarchie ist flach, die Verkehrsteilnehmenden begegnen sich auf Augenhöhe und können durch ähnliche Tempi wieder miteinander kommunizieren – mit Blickkontakt und Gesten: Das ist die Philosophie hinter den 30er-Zonen seit Anbeginn. Doch während früher jeder seinem Verkehrsmittel treu blieb, stellt sich heute immer mehr die Frage, wie man am schnellsten von A nach B kommt. Zu Fuss, mit dem Rad, dem Auto oder Bus?
Hier könne es zu Veränderungen der Verkehrsmittelwahl kommen, meint Axhausen. Zukünftig dürften der langsame ÖV und die abgebremsten Autos zu den Verlierern gehören, zumal es für Letztere immer weniger Parkplätze gibt. Auf der anderen Seite wird die Bevölkerung wieder vermehrt mit einem Zweirad oder zu Fuss unterwegs sein.
Fussgänger im Kommen
Fussgänger sind generell im Kommen – und wie! Der britische Psychologe Richard Wiseman (55) verglich das Lauftempo in 32 internationalen Städten von Bern über New York bis Wellington vor und nach der Jahrtausendwende. Ergebnis: Die Menschen hatten ihr Schritttempo in den gut zwölf Jahren um durchschnittlich zehn Prozent erhöht. «Im Jahr 2040 werden die Leute schon da sein, bevor sie losgegangen sind», witzelte Wiseman.
Die Erhöhung der Geschwindigkeit führt der Psychologe auf höheren Zeitdruck, aber auch auf das Smartphone zurück: Es erlaube neben schneller Informationsweitergabe und -rezeption eine bessere Planung und Koordinierung, wodurch der Druck wachse, mehr in derselben Zeit machen zu müssen oder zu wollen – ein Befund, der heute noch viel stärker zutreffen dürfte.
Übrigens: Bern landete bei dieser Studie auf dem drittletzten Platz – nur in Manama (Bahrain) und in Blantyre (Malawi) schlenderte man noch gemächlicher. Und wie um das Klischee der langsamen Berner noch zu bestätigen, liess Andreas Diekmann (70), Soziologieprofessor an der ETH Zürich, Jahre später die Laufgeschwindigkeit in Schweizer Städten vergleichen. Drei Mal dürfen Sie raten, welches die schnellste, welches die langsamste Stadt war.
«‹Es geit ja ufä, nur nit gschprängt.› – Ich bin en Zürimaa in Bern. Und ich dreiä durä!», singt der Schweizer Reggae-Musiker Dodo Jud (44) in seinem Hit. Wer bei Weltklasse Zürich die Schnellsten sein werden, ist jedenfalls jetzt schon gewiss: Es sind Fussgänger.