Zwei Brüder. Einer kommt zu gesellschaftlicher Anerkennung, einer stürzt ab. Warum? Dieser Frage geht Ueli Mäder (72) in seinem neuen Buch «Mein Bruder Marco» nach. Ueli Mäder ist emeritierter Professor für Soziologie der Universität Basel sowie der Hochschule für Soziale Arbeit. Mit Forschung zu sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Engagement prägt er den politischen Diskurs der Schweiz der letzten Jahrzehnte mit. Neben seinen Recherchen hält er bis heute Lesungen und Vorträge. Wer wissen will, wer die Geschicke der Schweiz wie und aus welchen Beweggründen lenkt, lese etwa sein Buch macht.ch, erschienen 2015 im Rotpunktverlag.
Doch eigentlich wäre Ueli Mäders älterer Bruder Markus Mäder (†2013), genannt Marco, prädestiniert für Aussergewöhnliches gewesen. Das viertälteste Kind einer achtköpfigen Familie wächst in bescheidenen, aber weltoffenen Verhältnissen in Sissach (BL) auf. Der Vater, gelernter Metzger, später Fürsorger für Alkoholiker, nimmt immer wieder «Randständige» auf und bietet ihnen ein Dach über dem Kopf. Die Mutter, die einst keine Lehre machen durfte, sondern arbeiten musste, vermittelt die Liebe zu Literatur und Musik. Marco diskutiert schon in jungen Jahren am Familientisch, informiert über soziale und politische Fragen, unterhält mit Witzen und schauspielerischem Talent. Sein Umfeld sieht den ausserordentlich interessierten, feinfühligen und intellektuell begabten jungen Mann und Nationalliga-Handballer symbolisch schon als Bundesrat.
Der jüngere Bruder Ueli, der nach eigenen Aussagen öfters aneckt, dem nichts so einfach zufällt, bestaunt den älteren, dem Ideen, Interessen, Erfolge und Herzen zufliegen, den auch andere vielleicht zu stark idealisieren. «Er war so hilfsbereit, interessant und zugewandt. Vielleicht entzog er sich dann den daraus entstandenen übersteigerten Erwartungen. Und er haderte mit dem Weltgeschehen», sagt Mäder – zwei von vielen Gründen, die er in seinem Buch findet.
Marcos soziales Gewissen wird mit einer Eisenstange quittiert
Die Verweigerung des WK-Militärdienstes führt zu einer Gerichtsverhandlung und einem Gefängnisaufenthalt. Beim Prozess sagt Marco: «Ich kann meine Augen nicht länger davor verschliessen, wie unser Profitdenken die vielgerühmten humanitären Ziele der Schweiz zu schönen Worten werden lässt.» Auch nach dem Gefängnis bemängelt der «gläubige Atheist», der inzwischen Theologie studiert, in Vorträgen die Aussenpolitik der Schweiz – und bekommt dafür auf dem Heimweg hinterrücks eine Eisenstange an den Kopf geschmettert. Seine letzte Prüfung des Studiums verpasst er absichtlich. Er ist fortan immer öfter in der Beiz zu finden.
«Er hat sich verweigert und über 40 Jahre zu Tode gesoffen», sagt Ueli Mäder zum Tod seines Bruders unbeschönigt. Solch nüchterne Feststellungen ziehen sich durch das ganze Buch. «Eigentlich habe ich das Buch zunächst für mich geschrieben. Ich wollte mich mit dem Warum, mit Marco und mit dem beschäftigen, was uns prägt», sagt Mäder. Er stellt dreizehn Thesen auf, warum mit ähnlichen Voraussetzungen teilweise so unterschiedliche Biografien entstehen können. Sie alle aufzuzählen wäre verfehlt, denn Mäders Buch ist viel mehr. Er erzählt das Leben seines Bruders über erinnerte Gespräche, über Aufsätze, Artikel und publizierte Gedichte, die Marco Mäder einst verfasst hat. Und über die Diskussionen der philosophischen Ideen gemeinsamer Lektüre. So entsteht nicht nur eine Art Lektüreempfehlung, sondern auch eine Analyse der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen in der Schweiz – eine Art Chronik der jüngeren Schweizer Zeitgeschichte.
Und hinter jedem Absatz klafft zwischen den lakonisch gehaltenen Zeilen der Abgrund des Verlustes auf, den Ueli Mäder erlebt hat. Da schreibt einer, um einen anderen am Leben und bei sich zu erhalten – und uns Lesern macht er die literarische Gestalt seines Bruders zum Geschenk. Denn eine Beziehung, wie sie Ueli Mäder zu seinem Bruder hatte, erscheint bei aller Schwierigkeit, die Alkoholabhängigkeit für das Umfeld mit sich bringt, eigentlich als eine Lebensnotwendigkeit für jeden von uns.
Ueli Mäder: «Mein Bruder Marco», 192 Seiten, Fr. 29.-,
erscheint am 21. März im Rotpunktverlag