Sophie Hunger, Soldatin der Gefühle
«Ohne das Irrationale ist das Leben nichts wert»

Um nahe bei ihrer Familie zu sein, verbrachte die Sängerin Sophie Hunger jüngst viel Zeit in der Schweiz. Hier schlug die Tochter einer Politikerin und eines Diplomaten früh einen anderen Weg ein als ihre Eltern. Wir trafen die Wahlberlinerin am Ort, wo alles begann.
Publiziert: 30.08.2020 um 09:40 Uhr
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Sophie Hunger (37) auf eine Rampe vor dem Club Helsinkin in Zürich, wo ihre Karriere ihren Anfang nahm.
Foto: Nathalie Taiana
Jonas Dreyfus

Es ist ihr zweites Interview an diesem bewölkten Sommertag Mitte August – das erste hat sie mit einem Journalisten aus der Romandie geführt. Trotz des Lärms der S-Bahn, die über das Restaurant Viadukt in Richtung Zürich-Hauptbahnhof donnert, war Sophie Hungers fast schon theatralisch schönes Französisch nicht zu überhören. Die 37-Jährige ist gut gelaunt, trägt ein eierschalenfarbenes Minikleid mit Nadelstreifen, ihre Fingernägel sind sonnenblumengelb lackiert, ihr Lächeln mädchenhaft, ihr Lachen laut und burschikos.

Hunger spricht jetzt perfektes, nicht allzu ausgeprägtes Zürichdeutsch. Sie ist die Tochter des ehemaligen Schweizer Botschafters Philippe Welti (71), der die letzten fünf Jahre seiner diplomatischen Karriere in Teheran verbrachte. Emilie Jeanne-Sophie Welti, wie sie gebürtig heisst, kam in Bern zur Welt, zog danach mit ihrer Familie nach London, mit sieben wieder zurück nach Bern, mit 13 nach Bonn und mit 16 schliesslich nach Zürich, wo sie das Gymnasium beendete. «Mein Vater stammt von hier», sagt sie. «Er wollte heim.»

Ein Live-Club war ihr Zuhause

Gleich um die Ecke des Bogens unter dem Eisenbahnviadukt, wo sie am Restauranttisch sitzt, liegt die Zürcher Clubmeile der Geroldstrasse mit dem Konzertlokal Helsinki. Hier bildete Sophie Hunger ihre musikalische Identität aus. «Ich war so oft dort, dass ich mich abmelden musste, wenn ich mal verhindert war», sagt sie. «Sonst hätten sich die anderen Sorgen gemacht.» Hier hatte sie ihre ersten Live-Auftritte mit Gesang und akustischer Gitarre. Am Anfang war sie so nervös, dass ihr der Chef des Clubs einen Schluck aus einer Schnapsflasche zur Beruhigung verordnete.

Wir treffen Hunger anlässlich ihres siebten Albums «Halluzinationen», das am 4. September erscheint. Es sei aus einem Gefühl der Einsamkeit heraus entstanden, sagt sie. Es habe sie befallen, als sie nach einer «Monster-Tour» zurück nach Berlin gekommen sei. Dort wohnt sie seit sechs Jahren. Die Stadt war grau und kalt. Ablenkung gabs keine.

«Was mache ich eigentlich mit meinem Leben?», fragte sie sich in diesem Moment. Und kam zum Schluss, dass sie eigentlich Halluzinationen produziere. «Emotionen und Bilder, von denen man glaubt, dass sie wahr sind, die sich dann aber als Täuschungen herausstellen.» Wenn sie einen Love Song singe, sei sie drei Minuten lang voll und ganz drin im Gefühl der Liebe. «Danach verschwindet es wieder.» Und so hören sie sich auch an, die zehn neuen Songs, die aus diesem Alleinsein entstanden sind: wie lieblich-fiebrige Fantasien einer Tagträumerin.

Erste Schweizerin bei Glastonbury Festival

Das Album passt zum Zustand, den viele Menschen seit Beginn der Corona-Krise an sich beobachten. Die Aussenreize nehmen ab, das Innenleben erwacht. «Vergiss nicht, wer die Musik macht», singt Hunger übersetzt im Refrain des Liedes ­«Alpha Venom» – ursprünglich eine Auftragsarbeit für die deutsche ­TV-Serie «Rampensau». Hier gehts um toxische Männlichkeit. Die Zeile könnte jedoch genauso gut eine Aufforderung aller Musiker, die jetzt nicht auftreten können, an ihre Hörer sein: Vergesst nicht, woher die Musik kommt, die ihr zu Hause oder mit euren Kopfhörern konsumiert. Von uns!

Sie sei zum Glück nicht existenziell bedroht, sagt Hunger, obwohl ihr Album schon im Mai hätte erscheinen sollen, gefolgt von einer grossen Tour. «Andere Kreative sind viel schlimmer dran als ich.»

Bereits nach ihren ersten Auftritten in Zürich, Hunger war 25, begann ein bekannter Radiomode­rator in der Romandie ihre Songs in seiner Sendung zu spielen, kurz ­darauf nahm die französische Abteilung der Plattenfirma Universal sie unter Vertrag. Bereits Hungers erstes Album «Monday’s Ghost» schaffte es mit Songs auf Englisch, Deutsch und Schweizerdeutsch auf Platz 1 der Schweizer Charts.

In wenigen Jahren gelang ihr, wovon andere Schweizer Musiker ein Leben lang vergeblich träumen: Sie schaffte nicht nur den Sprung in die Nachbarländer – in Deutschland wurde sie für ihre Club-Tournee, in Frankreich für ihre Cover-Version des Noir-Désir-Hits «Le vent nous portera» ausgezeichnet –, sondern bis nach England, wo sie als erste Schweizerin überhaupt am Glastonbury Festival auftrat – so etwas wie die Mutter aller Rock-Open Airs.

Das Interesse an Hungers Live-Shows ist bis heute ungebrochen, ihre Alben haben sich mehr als eine viertel Million Mal verkauft, obwohl Hunger nie auch nur ansatzweise versucht hat, den Geschmack der Masse zu treffen. In ihren Songs wirkt sie oft in sich gekehrt, ihre Musik lässt sich schlecht beiläufig konsumieren, ihre Texte erzeugen ihre volle Wirkung erst, wenn sich der Hörer voll auf sie konzentriert.

Robust wie Granit

Während des Lockdowns gab Hunger ein Wohnzimmerkonzert, initiiert von der Londoner Royal Albert Hall. Das Wohnzimmer befand sich in einem Chalet eines Freundes in den Schweizer Bergen, nicht in ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg. Hunger verbrachte seit Ausbruch der Krise vermehrt Zeit in ihrem Heimatland. «Meine Eltern sind schon über 70. Wenn sie krank geworden wären, wollte ich in ihrer Nähe sein.»

Ihre Mutter ist Myrtha Welti-Hunger (75), ehemals Generalsekretärin der SVP, ihr Geschlecht stammt von den Walsern ab – eine Volksgruppe, die hoch über die Alpen wanderte, um Graubünden zu besiedeln. «Ohne Hightech-Jacken von Mammut, vielleicht sogar barfuss», sagt Hunger, die sich gerne vorstellt, das robuste Wesen ihrer Ahnen geerbt zu haben. «Wenn es mir nicht gut geht, sage ich zu mir: Hey, Sophie Hunger, reiss dich zusammen.»

Typisch schweizerisch, könnte man sagen. Und damit gar nicht so unrecht haben. Denn auch wenn sie in Berlin lebt, in Paris eine Wohnung hat und in Prag, Istanbul oder Stockholm auftritt, kommt sie in ihrer Musik immer wieder auf ihre Wurzeln zurück.

«Ich Granit, du Kristall – zusammen sind wir Zucker», singt Hunger im Song «Finde mich», der ursprünglich «Helvetia» heissen sollte. In ihm setzt sie sich metaphorisch mit der Geschichte der Gleichstellung der Frauen in der Schweiz auseinander. «Der Granit bin ich, der Kristall sind alle anderen Frauen.» Und der Zucker? «Er symbolisiere die unglaublichen Dinge, die entstehen können, wenn wir uns zusammenschliessen.»

Soldatin der Gefühle

«Ich komme aus einer sehr bürgerlich-konservativen Familie», sagt Hunger, die zwei ältere Geschwister hat. Am Familientisch sei oft darüber diskutiert worden, wofür die Schweiz stehe und wofür sie stehen könnte. «Mein Vater vertrat die Schweiz im Ausland, meine Mutter engagierte sich als Politikerin innerhalb der Grenze. Beide haben sich ein Leben lang mit ihrem Land beschäftigt.»

Myrtha Welti-Hunger trat im Jahr 2000 als Folge grundlegender Differenzen mit Christoph Blocher (79) aus der SVP aus und wurde Generalsekretärin der Bergier-Kommission, die sich mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg befasste. «Auch darüber haben wir oft gesprochen», sagt Hunger. «Patriotismus heisst für mich, nicht einfach nur zu sagen, dass alles gut ist, sondern sich auch zu fragen: Was von dem, was wir gemacht haben, sehen wir heute kritisch?»

Sie habe einen anderen Weg eingeschlagen als alle in ihrer Familie, sagt Hunger, die mit 18 in der Gastronomie zu arbeiten und in Bands zu singen begann. «Ich bin Soldatin der Gefühle, nicht der Verfassung», sagt sie über ihre Welt. «In meinen Songs geht es um das Irrationale, um Emotionen und Empathie.»

«Live fast, die young?»

Musikmachen erfordert laut Hunger totale Hingabe und eine Spur Verrücktheit. «Wer würde sonst seine ganze Seele in ein Album stecken?» Wenn sie einen Song spiele, sei das im Moment wichtiger als alles, was war, und alles, was kommen wird.

Das klingt nach «Schnell leben, jung sterben» – frönt Sophie Hunger der Lebensphilosophie desRock ’n’ Roll? Sie schüttelt den Kopf, während ein weiterer Zug über das Viadukt donnert. «Ich stelle das Irrationale ins Zentrum, weil es genauso wertvoll ist wie das Rationale. Oder anders gesagt: Ohne das Irrationale ist das Leben nichts wert.»

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