So arbeitet ein Spitalseelsorger – ein Treffen
«Die Innenwelt des Menschen, das ist meine Welt»

Er hört zu und nimmt sich selbst zurück. Jörg Büchel (62) ist seit fast 30 Jahren Seelsorger. Wie hält man so viel Leid der anderen aus? Und vor allem: Was haben die Menschen für Sorgen? Ein Treffen.
Publiziert: 02.01.2023 um 10:04 Uhr
|
Aktualisiert: 13.01.2023 um 16:58 Uhr
1/6
Jörg Büchel (62) ist seit fast 30 Jahren Seelsorger. Er hört den Menschen zu, denn aktives Zuhören ist etwas, was wir immer mehr verlernen.
Foto: Philippe Rossier

Jörg Büchel sieht jeden. So auch Urs, der einen halben Tag in der Woche vor den Liften des Kantonsspitals Graubünden steht und Patienten und Besucherinnen den Weg zeigt. Es sind Freiwillige, erklärt Büchel. Sie kriegen kein Geld, haben im Gegenzug aber eine Aufgabe. «Hoi Urs, schön, bisch wieder do. Wia gohts dir?», fragt Büchel mit leiser Stimme. Urs fängt an zu erzählen, er sei krank gewesen, es sei so mühsam, aber er kenne es ja nicht anders. Büchel hört zu. Irgendwann sagt der Seelsorger: «Und jetzt bisch do. Das isch schön.»

Es ist bewundernswert, wie Sie auf eine Person zugehen und ein Gespräch beginnen.
Small Talk muss man können, sonst geht es nicht. Aber nur Small Talk ist schrecklich. Da leide ich.

Mein Cousin verstarb kürzlich. In seinen letzten Wochen sprach er viel mit dem Seelsorger des Krankenhauses, obwohl er schon lange aus der Kirche ausgetreten ist.
Einige Leute haben Vorbehalte und denken, dass wir Seelsorger gleich mit der Religion anfangen. Aber wir kommen nicht damit. Die Themen bestimmt der Patient. Wir hören zu und nehmen auf, was kommt. Wir stellen auch Fragen, aber das Zuhören ist viel wichtiger.

Können wir noch zuhören?
Es geht heute alles sehr schnell und muss funktional sein. Seelsorger sind die letzten Narren, die einfach da sein dürfen und Zeit haben. Wir müssen am Abend kein Programm abgearbeitet haben, das kann man gar nicht bei dieser Arbeit. Wir dokumentieren auch nichts.

Dürften Sie das überhaupt?
Ich schreibe für mich zwei Stichworte zur Erinnerung auf, worüber wir gesprochen haben. Aber wenn der Patient das Spital verlässt, wird alles geschreddert. Es wird nichts aufbewahrt. Wichtig ist der Moment.

Wir unterbrechen das Gespräch. Der Seelsorger muss eine Patientin abholen. Rita kommt regelmässig zur Behandlung ins Spital. Seelsorger Büchel holt sie unten in der Cafeteria ab und bringt sie zur Anmeldung. Rita ist dement und wohnt im Altersheim. Büchel sagt, die Spitalbesuche seien für sie wie ein Nach-Hause-Kommen. Die ältere Frau hakt sich bei Büchel ein, er hält ihre Hand, die beiden plaudern wie alte Freunde. Rita macht dem Seelsorger Komplimente, sagt aber auch: «Du söttsch nid immer so ernst si!», dann lächelt sie und fragt: «Han i wieder an Blödsinn gseit?» Büchel hilft Rita, sich aufs Bett zu setzen, zieht ihr die Schuhe aus, übergibt sie den Pflegenden und verspricht, sie wieder abzuholen. So ein Dienst sei eher die Ausnahme. Es hätte sich über die Zeit eine gute Beziehung zwischen den beiden entwickelt.

Wie arbeiten Sie sonst?
Ich gehe von Zimmer zu Zimmer, so weit ich komme. Und frage einfach. Ich weiss ja von nichts.

Besuchen Sie auch jemanden, der einen Fuss gebrochen hat?
Vielleicht hat der Patient Probleme in der Partnerschaft. Es geht nicht immer nur um Themen, derentwegen die Patienten hier sind. Es gibt ganz andere Belastungen. Für die sind wir auch da. Das ist der Unterschied zum Arzt oder Therapeuten. Wir sind offen und gehen nicht gezielt vor. Als Erstes geht es darum, Vertrauen zu schaffen. Der Anfang ist für mich der heikle Moment.

Wie starten Sie?
Ich frage, wie es den Patienten geht und ob sie zufrieden sind mit der Betreuung. Ich erfahre nur, was mir die Patienten erzählen. Die Akte kenne ich nicht. Manchmal bin ich auch beim Arztgespräch dabei und helfe, alles zu verstehen und einzuordnen.

Können die Ärzte das zu wenig oder fehlt die Zeit?
Die Ärzte machen das mittlerweile sehr gut. Aber ja, manchmal haben sie wenig Zeit, und oft kommen die grossen Fragen erst im Nachhinein.

Gibt es eine Frage, die viele Patienten beschäftigt?
Ja, das Tabuthema Suizid. Viele Patienten möchten darüber sprechen. Wenn sie das dem Arzt oder der Pflege sagen, gehen alle Alarmlampen an. Sie merken bei mir, dass ich damit umgehen kann. Die meisten Patienten wollen damit sagen, dass sie am Limit sind mit der Belastung. Es geht nicht bloss um die Schmerzen. Das grössere Motiv ist die Abhängigkeit, in die sie kommen, und dass sie zur Belastung für andere werden.

Sie sprechen von Sterbehilfe?
Ja. Mir ist wichtig, dass wir als Gesellschaft lernen, dass das für viele Leute ein Thema ist – und auch eine Option.

Wer setzt sich hauptsächlich damit auseinander?
In der Regel ältere Leute, die bei aller Medizin nicht mehr allzu viel erwarten können. Die Menschen möchten Optionen haben, wählen können. Sonst ist man Opfer der Wohltäter, und das fühlt sich schlecht an. Und Palliativmedizin ist eine weitere Option, die viele Menschen gar nicht kennen.

Seelsorger Büchel möchte nach einem Patienten sehen, den er am Vortag schon besucht hat. Ein spezieller Fall. Ein Mann, Ende 70, der eigentlich nichts hat. Der Körper ist gesund. Aber der Kopf! Man vermutet ein Delir, ein Zustand akuter Verwirrtheit. Büchel klopft und tritt in das Zimmer ein. Der Mann sitzt am Tisch, vor sich ein Kreuzworträtselheft. Die Lage sei aussichtslos, er habe nichts, aber er wolle sterben. «Sie wollen sterben, aber es reicht nicht», sagt Büchel. Der Patient greift sich auf den Kopf: «Da ist einfach alles wirr.» Er habe das nicht verdient. Der Mann erzählt, was er alles geschafft hat, wie wichtig sein Job war, wie gross sein Auto. Materielles folgt auf Materielles. Büchel unterbricht: «Aber das Grösste ist Ihre Frau!» Der Mann sagt: «Oh ja, das ist eine tolle.» Man hat Tausende Fragen an diesen Patienten: Wie sich die Verwirrtheit denn äussert? Ob er nicht lieber draussen spazieren möchte? Warum er nicht zu Hause sein kann? Es ist schwierig, das alles zurückzubehalten. Büchel schafft es. Es ist nicht seine Aufgabe, über die Diagnose zu sprechen. Das Telefon klingelt. «Meine Tochter», sagt der Mann. «Danke fürs Gespräch», sagt Büchel. «Schön, dass Sie da waren» der Patient.

Haben Sie auch Patienten, die Sie über längere Zeit besuchen?
Häufig ist es nach einem Mal geklärt. Wir sind da, bevor die Angehörigen mobilisiert sind und ins Spital kommen. Aber wenn etwas ist, bleiben wir dran. Eine Patientin besuche ich derzeit öfter. Sie ist aus der Ostukraine und wurde verletzt. Nun hört sie aus der Distanz, wie ihre Heimatstadt zerbombt wird. Das ist schrecklich. Sie fragt sich, wo sie nachher hingehen soll.

Wie gehen Sie damit um, Tag für Tag so viel Leid und Klagen zu hören?
Es sind eben andere Leute. Wenn ich selbst betroffen bin, tut es mir auch weh. Ich kann mich gut einfühlen, aber ich nehme es nicht mit. Ich muss für den nächsten Patienten wieder frei sein. Ausserdem habe ich die Gabe des Vergessens. (lacht)

Wann kommen Sie an Ihre Grenzen?
Bei Suizid von jungen Leuten. Zwei Personen habe ich betreut, die sich vor den Zug geworfen und beide Beine verloren haben. Oder wenn Kinder verunfallen, geht es mir nahe. Für diesen Schmerz, den Eltern erleben, kann man keine Worte finden. Diesen Schmerz auszuhalten, erschöpft.

Büchel wird überall angesprochen. So auch auf dem Krankenhausflur. Und dann versteht man auch, warum ein Seelsorger keine Termine hat, sondern offen für jedes Gespräch ist. Ein Mann spricht ihn an. Er hat ein paar Pflaster auf den Handrücken. Er hatte einen Infekt, aber heute könne er nach Hause. Der Seelsorger und der Mann haben sich vergangene Woche das erste Mal gesehen. Auf einer Gedenkfeier für Eltern, die Kinder durch einen Suizid verloren haben. Büchel war als Seelsorger da. Der Mann, weil sich sein 16-jähriger Sohn das Leben nahm. Von ihm erzählt er nun im Flur des Krankenhauses. Büchel hört zu, vermittelt seinem Gegenüber nie, dass er weitermuss. Keine Zeit gibt es bei Büchel nicht. Am Ende bedankt sich der Seelsorger für das Gespräch.

Tag für Tag solche Themen, das ist heftig. Warum sind Sie Seelsorger geworden?
Ich kann eben nichts anderes (lacht). Ich hatte schon als Jugendlicher viele Probleme und habe mich damit auseinandergesetzt. Die Innenwelt des Menschen, das ist meine Welt. Da ist viel Reichtum – und auch viel Schmerz. Ich habe nie nach Materiellem gestrebt, ich kann nicht einmal Auto fahren, es interessiert mich einfach nicht. Ich gehe gern dorthin, wo es persönlich wird, wo es brenzlig ist, wo es wehtut und Entwicklungen möglich sind.

Büchel geht Rita wieder abholen. Die ältere Frau strahlt, als sie den Seelsorger erblickt. «Schön, holsch mi ab!» Rita hängt sich wieder ein, gemächlich machen sich die beiden auf zum Ausgang.

Zum Schutz der Personen wurden ihre Namen geändert.
Im Namen der anderen

Jörg Büchel hat in Zürich Theologie studiert und zahlreiche psychologische Weiterbildungen gemacht. Er war 20 Jahre lang Seelsorger in der Gemeinde Sent im Unterengadin. Seit neun Jahren arbeitet er im Kantonsspital Chur und ist damit der Dienstälteste. Noch zwei Jahre, dann geht er in Pension. Die Seelsorger werden von den beiden Landeskirchen und vom Spital finanziert. Was sich gemäss Büchel in den vergangenen Jahren verändert hat: Die Patienten wollen mehr informiert sein und mitentscheiden. Zudem war die Kirche zu seinen Anfangszeiten bei den Patienten häufiger Thema als heute.

Philippe Rossier

Jörg Büchel hat in Zürich Theologie studiert und zahlreiche psychologische Weiterbildungen gemacht. Er war 20 Jahre lang Seelsorger in der Gemeinde Sent im Unterengadin. Seit neun Jahren arbeitet er im Kantonsspital Chur und ist damit der Dienstälteste. Noch zwei Jahre, dann geht er in Pension. Die Seelsorger werden von den beiden Landeskirchen und vom Spital finanziert. Was sich gemäss Büchel in den vergangenen Jahren verändert hat: Die Patienten wollen mehr informiert sein und mitentscheiden. Zudem war die Kirche zu seinen Anfangszeiten bei den Patienten häufiger Thema als heute.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?