Eine Maria, die lächelt und blau lackierte Fingernägel hat: Sie ist der Grund, dass wir die Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens (56) in der Kirche Allerheiligen in Zürich antreffen, um darüber zu sprechen, was uns an Weihnachten rührt und berührt.
Warum haben Sie sich diese Maria ausgesucht?
Dorothea Lüddeckens: Marienbildnisse sind oft ernst und häufig auch traurig. An dieser Maria berührt mich, dass sie eine Freundlichkeit ausstrahlt und lächelt. Das Jesuskind schaut sogar ein bisschen verschmitzt. Und ich mag die Innigkeit, wie Maria ihr Kind festhält und beschützt. Diese mütterliche Bindung bringt das Weibliche als Gegenpol zum sonst väterlichen Gott ein.
Was meinen Sie zu den blauen Fingernägeln der Maria?
Anfangs habe ich mich darüber gewundert. Bis ich vom Pfarrer erfahren habe, dass die Hände der Holzfigur heimlich von einer Besucherin mit Nagellack verschönert worden sind. Sie leidet unter einer psychischen Erkrankung und war öfters hier. Ich finde es schön, dass diese Spuren bleiben dürfen. Es zeigt, dass das hier ein lebendiger Ort ist, der für alle Menschen offen ist, und dass diese Maria etwas auslöst. Seither ist sie allerdings hinter Glas.
Maria ist Jungfrau, warum ist das wichtig?
Historisch Gesichertes gibt es dazu wenig, wichtig ist die Bedeutung: dass dieses Kind, das sie zur Welt bringt, etwas ganz Besonderes ist, weil es unmittelbar mit Gott verbunden ist. Dass er zum Menschen wird, ist aussergewöhnlich und berührt viele bis heute.
Warum?
Weil Gott so sichtbar und greifbar wird. Er ist nicht weit weg von den Menschen, sondern wird selber einer.
Jesus hat mit seiner Berührung geheilt und Blinde sehend gemacht!
Das Besondere an diesen Geschichten ist, dass Jesus die Menschen sehr gezielt berührt hat.
Wie das?
Jesus hatte offensichtlich keine Berührungsängste. Er fasste auch Kranke, Aussätzige und Leute am Rand der Gesellschaft an. Damit hat er nicht nur geheilt, er hat alle mit eingeschlossen.
Warum ist Berührung so wichtig?
Dazu gibt es die Geschichte mit dem Jünger Thomas. Er zweifelte an der Auferstehung von Jesus, erst als er ihn anfasste, konnte er daran glauben. Es geht also nicht nur ums Berühren, sondern auch ums Begreifen. Kleine Kinder fassen alles an, um es zu verstehen. Der Tastsinn bildet sich beim Embryo in der achten Schwangerschaftswoche aus, es ist unser erster Sinn. Und es ist auch oft der letzte, selbst wenn wir nicht mehr sehen, sprechen oder hören können, eine Berührung fühlen wir immer noch.
Heutzutage gibt es in vielen Kirchen das Angebot der Handauflegung, kann das auch Wunder wirken?
Wenn ein Kind hinfällt, nehmen wir es in den Arm, oder wir legen unsere Hand auf die Stelle, die schmerzt, und singen ein Lied dabei. Durch Berührung werden Endorphine freigesetzt, und es gibt Studien, dass Menschen, die mehr Körperkontakt haben, weniger oft erkranken. Scheinbar hat das eine Wirkung aufs Immunsystem, das bedeutet nicht, dass man so unmittelbar Krankheiten heilen kann. Aber es zeigt, dass die Berührung ein urmenschliches und existenzielles Bedürfnis ist.
Dabei geht es nicht nur um die körperliche, sondern auch um die emotionale Berührung. Warum zieht es an Weihnachten viele in die Kirche, die sonst das ganze Jahr nicht hingehen?
Weil es ein Teil unserer Kultur ist. Und auch wer nicht im traditionellen Sinn gläubig ist, kann von der Geburtsgeschichte von Jesu berührt sein. Es geht um eine Familie in einer dramatischen Situation, sie zieht mitten in der Nacht umher auf der Suche nach einem sicheren Ort. Das erleben wir hier in der Schweiz nicht in dieser existenziell bedrohlichen Art. Aber dieses Bedürfnis, an einen geschützten und geborgenen Ort zu kommen, das kennen alle. Man möchte in diese warme Krippe, zu Maria und Josef und den Tieren.
Obwohl es in Palästina ja nicht besonders kalt war!
Ja, aber hier bei uns schon. Und es passt zum Bild vom geschützten Ort der Ruhe. Es wird gesungen, gefeiert, und man möchte sich in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlen.
Eigentlich schade, dass man das in der Kirche nicht öfter findet. Im letzten Jahr gab es so viele Austritte wie noch nie bei den Katholiken.
Das ist bei beiden Landeskirchen so. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung und hängt mit einer Dynamik zusammen, die die Kirchen selber nur bedingt beeinflussen können. Den sozialen Druck, sich sonntags im Gottesdienst zu zeigen, gibt es zum Beispiel nicht mehr. Das ist ja auch etwas Positives, es ist eine Befreiung, wenn sich Menschen nicht mehr verpflichtet fühlen, sich für etwas zu engagieren, das ihnen persönlich nicht so viel bedeutet.
Was heisst das für unsere Gesellschaft?
Auch mit weniger Mitgliedern spielen die Kirchen eine wichtige Rolle – sie sind oft auch an den Orten präsent, wo viele nicht hinschauen. Also im sozialen Bereich, bei Obdachlosen, Flüchtlingen oder in Gefängnissen.
Besinnt man sich erst dann auf den Glauben, wenn es einem schlecht geht?
Man wird nicht plötzlich fromm, auch nicht unbedingt im Sterben. Es gibt viele Menschen, die kommen sehr gut ohne einen traditionellen Glauben aus. Wenn es um existenzielle Fragen geht, bietet unsere Gesellschaft inzwischen viel mehr als nur christliche Antworten, es gibt diverse Möglichkeiten im spirituellen oder therapeutischen Bereich, man kann zu Heilern oder Psychologen gehen, auch in der Philosophie kann man Trost finden.
Yogastunden, Achtsamkeit oder Meditation finden Zulauf. Ist das die neue Form der Religion?
Darin stecken religiöse Wurzeln, oft ohne dass man sich das bewusst ist, das läuft dann eher unter Spiritualität. Bei all diesen Körper- und Geistesübungen kann man Erfahrungen machen, wie es auch in einem Gottesdienst möglich ist. Heutzutage besteht ein grosses Bedürfnis nach Autonomie und Individualität. Das kann auch zu Vereinzelung und Vereinsamung führen, und die Sehnsucht nach Gemeinschaft entsteht. Nähe gibts aber nicht auf Knopfdruck.
Ausser man lässt sich von einer indischen Heiligen wie Amma in die Arme nehmen, sie hat Millionen von Menschen umarmt, ist das so ein bisschen wie bei Jesus?
Selber habe ich Amma noch nie getroffen. Aber ich kenne Menschen, für die das eine ganz besondere Umarmung war. Wichtig dabei ist, dass Amma als eine mütterliche Persönlichkeit wahrgenommen wird, die Geborgenheit und Vertrauen vermittelt. Es wird als unschuldige Berührung empfunden.
Müsste in den Kirchen mehr Berührung stattfinden?
Das ist ein heikles Thema, es gibt im religiösen Kontext schliesslich auch viel Missbrauch. Nicht nur bei Gurus in fernen Ländern, auch in unseren christlichen Kirchen.
Wir haben MeToo und die Pandemie hinter uns, wie wirkt sich das auf körperliche Nähe aus?
Wichtig ist die Selbstbestimmung. Man darf nicht vergessen, dass Berührung zwei Seiten hat, man kann nicht nur streicheln, sondern auch schlagen. Vieles wird derzeit neu definiert, so mit der Abstimmung «Nur Ja heisst Ja» im Nationalrat. Und künftig sollen Kinder gesetzlich das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung haben. Covid hat viele nachhaltig verunsichert, darum muss man neue Formen der Berührung finden.
Warum studiert man Religionswissenschaft?
Die Interessen der Studierenden sind unterschiedlich, vielen geht es um die gesellschaftliche Relevanz. Religion ist zum Beispiel politisch äusserst einflussreich, besonders global gesehen. Die Kriegsrhetorik in Russland ist stark religiös geprägt, Indien hat eine hindu-nationalistische Regierung, und auch in den USA wäre Trump ohne seine Verbindung zu den Evangelikalen wohl nie so weit gekommen. Religion mag vordergründig auf der persönlichen Ebene weniger bedeutsam werden, aber oft verändert sie auch nur ihre Form.
Dorothea Lüddeckens stammt ursprünglich aus Würzburg (D) und hat in München (D) Religionswissenschaft, Philosophie und evangelische Theologie studiert. Seit 2010 lehrt sie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dort ist sie Professorin für Religionswissenschaft mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung. Lüddeckens lebt mit ihrer Familie seit über 20 Jahren in Zürich.
Dorothea Lüddeckens stammt ursprünglich aus Würzburg (D) und hat in München (D) Religionswissenschaft, Philosophie und evangelische Theologie studiert. Seit 2010 lehrt sie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dort ist sie Professorin für Religionswissenschaft mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung. Lüddeckens lebt mit ihrer Familie seit über 20 Jahren in Zürich.
Was fasziniert Sie an dem Thema?
Die Vielfalt der religiösen Traditionen, in denen es so viel Unterschiede und doch viel Ähnliches gibt. Mich fasziniert auch das, was man auf den ersten Blick nicht als religiös erkennt. So wie die Südkurve des FCZ. Ich glaube, dort werden sehr viele religiöse Erfahrungen gemacht. Auch kleine tägliche Rituale, Verschwörungstheorien oder Netflixserien haben viel mit Religion zu tun. Viele sprechen heute aber eher von Spiritualität.
Was ist an Fussball religiös?
Es ist diese Erfahrung einer ganz intensiven Gemeinschaft, die über das Individuum hinausgeht. Man bricht aus seinem Ich-Gefängnis aus, jubelt für etwas oder leidet mit, man umarmt sich, man singt sich gemeinsam in Begeisterung, um damit die Spieler anzufeuern. Und Fan bleibt Fan, auch wenn die Mannschaft hartnäckig verliert. Es geht um eine entgrenzende Erfahrung, jenseits des eigenen kleinen Alltags.
Dafür braucht es also gar keine Kirche?
Auch keinen Tempel oder eine Moschee. Man muss nicht traditionell gläubig sein, um religiöse oder spirituelle Erfahrungen zu machen. Man kann an vielen Orten von dem, was über uns selbst hinaus geht, berührt werden. Manche erleben das Gefühl von Verbundenheit auf dem Gipfel eines Bergs. Wichtig ist dafür eine gewisse Offenheit, die Bereitschaft, sich nicht in allem abzusichern, vielleicht sogar sich ein Stück weit verletzlich zu machen. Sinnliche Eindrücke kommen dann dazu, ob das die Natur, Musik oder die Nähe von anderen Menschen ist.
Wie erleben Sie das persönlich?
Als Religionswissenschaftlerin ist es wichtig, Abstand zu den eigenen Erfahrungen nehmen zu können. Ich habe aber auf meinen Forschungsreisen sehr unterschiedliche Traditionen kennengelernt und durfte an vielen Ritualen teilnehmen. Mich berührt Religion überall dort, wo sie positiv auf Menschen wirkt, erschreckend finde ich, wie viel Unheil damit auch angerichtet werden kann.