Ans Fenster in Fahrtrichtung rechts: Passagiere, die im Mittelland die Eisenbahn Richtung Tessin besteigen, stürzen sich zuerst auf diese Sitzplätze. Denn von dort aus verspricht die Reise ein grösseres Spektakel: Kurz vor Göschenen UR zeigt sich oben das Chileli von Wassen UR. Dann nach einer Schlaufe ist es auf Augenhöhe zu sehen. Und nach einer weiteren Kehre müssen die rechts Sitzenden nur aufstehen und links hinunterschauen: der Kirchturm zum Dritten.
Bot sich die landschaftliche Attraktion bis 2016 allen Zugreisenden zwischen Altdorf und Airolo TI, verschluckt seither der Basistunnel die allermeisten Sonnenhungrigen schon bei Erstfeld UR, um sie nach 57 Kilometern und nur 17 Minuten später bei Bodio TI wieder rauszuspucken. Die rasante Fahrt ist ein bisschen wie Fliegen mit Start- und Landeort. Nur dass mit der Eisenbahn die Reise nicht hoch im Himmel durch eintöniges Blau verläuft, sondern tief im Gebirge durch Betongrau.
Der Weg ist das Ziel – das war einmal. Am 13. November 1779 schrieb der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) an seine Brieffreundin Charlotte von Stein (1742–1827): «Zum zweitenmal bin ich nun (…) auf dieser Höhe (Gotthardpass), ich sage nicht mit was für Gedancken. Auch iezt reizt mich Italien nicht.» Heute kann es nicht schnell genug gen Süden gehen. Dafür begradigen wir jeden mäandrierenden Weg, kanalisieren jeden Verkehrsfluss – meist mit dem Bau von Tunnels.
Seit 2000 massiv mehr Tunnels
Der erste Durchbruch in der Schweiz geht auf das Jahr 1708 zurück: Das 64 Meter lange «Urnerloch» bei Andermatt UR erleichtert das Überqueren des Gotthardpasses mit Kutsche oder zu Fuss. Nur 16 Meter länger ist der erste Bahntunnel von 1847 durch den Schlossberg in Baden AG. Heute dient er dem Strassenverkehr. Der Grosse-St.-Bernhard-Tunnel mit seinen 5,8 Kilometern zwischen Martigny VS und Aosta (I) ist 1964 die erste für Autos gebaute Verbindung durchs Schweizer Gebirge.
Seit 2000 gibt es massiv mehr unterirdische Bahntrassen, aber auch verdeckte Autostrassen. 31 Prozent der Eisenbahntunnels über 1,9 Kilometer Länge sind nach der Jahrtausendwende entstanden; bei den Strassentunnels sind es sogar die Hälfte. Beim Strassenverkehr bedeutet das eine Zunahme von 82,3 Kilometern ohne Tageslicht und Ausblick auf die Landschaft, bei der Bahn sind es sogar 161,6 Kilometer, die jetzt zusätzlich untertags verlaufen.
Seit bald 50 Jahren bestehen zudem Pläne für eine komplette Untertunnelung der Schweiz: 1974 initiiert der Lausanner ETH-Ingenieur Rodolphe Nieth (81) das Projekt Swissmetro – Kompositionen mit über 1200 Sitzplätzen rasen in einer Vakuumröhre während nur zwölf Minuten von Genf via Bern nach Zürich. Auch wenn die Pläne immer wieder Rückschläge erlitten haben, begraben sind sie noch nicht. Denn wir sind – bedingt durch die Topografie – eine richtige Maulwurfnation.
Beklemmendes Gefühl im Tunnel
Gewiss, das geschieht meist zum Wohl der Menschen – einerseits des mobilen Teils, der durch Umfahrungstunnels schneller vorankommen will, andererseits des immobilen Teils, der an Autobahnen und Bahnlinien wohnt und dem Überdachungen oder Untertunnelungen Schutz vor Lärm und Emissionen bieten soll. Und nicht zuletzt schonen solche unterirdischen Bauvorhaben die Landschaft – bereits heute sind zwei Prozent der Landesfläche mit Verkehrsinfrastruktur überbaut.
Doch ungefährlich ist das nicht. «Tunnels und vor allem Strassentunnels bergen immer grössere Gefahren als die offenen Transportwege», schreibt selbst der Bund auf seiner Website. «Unterhalts- und Sicherheitsarbeiten gestalten sich komplizierter und aufwendiger.» Und wer schon einmal mit dem Auto über eine Stunde in einem Stau untertags ausharren musste, kennt das beklemmende Gefühl, das selbst Menschen befällt, die nicht unter Klaustrophobie leiden.
Zumindest für Zugreisende gibt es seit dem 10. August ein befreiendes Gefühl: Wegen der Entgleisung des Güterzugs im Gotthard-Basistunnel befördert die Bahn Passagiere bis auf weiteres über die alte Strecke mit dem «bloss» 15 Kilometer langen Durchstich von 1882. Panorama-Strecke heisst die historische Alternative zum Basistunnel sinnigerweise. Und alle Reisenden zwischen Mittelland und Tessin müssen diesen eine Stunde länger dauernden Umweg auf sich nehmen.
Der Blick aus dem Fenster lohnt sich wieder
Ausrufe und Einsprachen? Mitnichten! Die Menschen nehmen es gelassen: Die Jugendlichen schauen von ihren Smartphones auf raus in die alpine Landschaft, die Mutter zeigt ihrem Sohn erstmals das Chileli von Wassen, und der Rentner freut sich über den altbekannten Ausblick. Der Umweg öffnet allen die Augen und zaubert ein Lächeln in die Gesichter. Plötzlich erkennen die Passagiere die landschaftliche Veränderung, die Fahrt bekommt einen Selbstzweck.
Es ist im eigentlichen Sinn eine Wieder-Entdeckung des Reisens, denn der Deckel ist nun weg. Statt «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer» heisst es jetzt «Fertig mit dem Tunnelblick, freie Sicht aufs Alpenheer». Es bleibt zu hoffen, dass wir diese Qualität in die Zukunft retten können. Denn erst, wenn der Weg Beachtung findet, dürfen wir vom Reisen sprechen – alles andere ist Pendeln.