Der Frühling entrümpelt derzeit den Winter. Die beste Zeit also, alte Bekannte zu besuchen: Schweizer Städte. Besonders im Frühjahr zählen Städtereisen zu den beliebtesten Kurztrips. Doch wer hierzulande an einen Citytrip denkt, jettet meist in europäische Metropolen. London und Paris führen das Besucher-Ranking mit etwa 18 Millionen Touristen jährlich an, gefolgt von Barcelona und Amsterdam mit jeweils etwa 8 Millionen Gästen.
Schweizer Städte können da nicht mithalten. Zu Unrecht, finden wir, denn für inspirierende Kurzferien muss man nicht weit reisen. Schweizer Städte sind zwar im internationalen Vergleich Winzlinge, aber gerade das ist ihre Stärke: Die Sehenswürdikeiten finden sich in Gehdistanz, es herrscht kaum Hektik, und dennoch bieten sie eine grosse kulturelle Dichte.
Gerade in der kleinen Schweiz buhlen die Städte mit kreativen Ideen um die Besucher: Das Zauberwort heisst Themenführungen. Diese gibt es zu Kulinarik, Kunst, Mittelalter; in Kostümen oder mit schauspielerischen Einlagen. Den Führungen ist eines gemeinsam, sie zeigen eine Stadt aus unerwarteten Blickwinkeln. Und genau das macht sie aus.
Mit der Nase durch Bern
Eine solch ungewohnte Perspektive bietet etwa die Stadtführung «Bern der Nase nach». Eine Tour passend zum Frühling, hier spielt die Welt der Düfte die Hauptrolle. Vor der Kirche Sankt Peter und Paul reicht uns Stadtführerin Beatrice Lang ein Duftsäcklein voller Weihrauch, bei der ehemaligen Fabrik von Rodolphe Lindt kitzelt freilich Schoggiduft die Nase. Mal riecht es kernig, mal muffig, mal süss – oft mit einem Augenzwinkern: Vor dem Bärengraben schmöckt es plötzlich nach Lakritz – Berner Bärendreck.
Beatrice Lang liebt Berner Geschichte und würzt die Tour mit reichlich Anekdoten. «Der Bern-Eroberer Kaiser Napoleon liebte seine Frauen am liebsten ungewaschen», erzählt sie am Gerechtigkeitsbrunnen. Süffige Geschichten gibt es auch in der Badgasse zu hören: In den ehemaligen Bädern gingen die Prostituierten ihrer Arbeit nach – Casanova soll hier einst Berner Meitschi vernascht haben. Die Tour führt ins wenig bekannte Matten-Quartier an der Aare, wo aus dem ehemaligen Hafen allmählich ein Viertel für Kreative entsteht.
Und da die Berner nicht nur gemütlich, sondern auch gastfreundlich sind, lebt unser Stadtrundgang auch von spontanen Begegnungen. Das Quartier-Original Res Margot und Frau Ruth singen uns spontan ein Ständchen in ihrem «KlangKiosk» vor. Mit Muulörgeli und Gitarre rockt Res einen Blues vom Feinsten, Frau Ruth schmettert mit kerniger Stimme. Doch wir verstehen nur Kauderwelsch: Der Text ist in «Matteänglisch» verfasst – eine Geheimsprache, welche «die da oben» in der Altstadt nicht verstehen sollen. «Die Matte gehört nicht zu Bern», sagt Res stolz. «Darum haben wir hier unsere eigene Sprache.»
Den besonderen Clou gibt es am Ende der Tour: Im Atelier «art of scent» von Duftkünstlerin Brigitte Witschi, die die Führung konzipiert hat, kreieren wir aus den Düften der Stadttour unser eigenes Parfüm – ein Fläschchen Bern zum Mitnehmen.
Zürich von unten
Das Repertoire der Themenführungen in Schweizer Städten ist riesig. Freilich mischt da auch Zürich mit. Besucher können an der Limmat mit dem Nachtwächter unterwegs sein, auf den Spuren starker Frauen gehen oder mit einem Guide Züri West entdecken. Das ehemalige Malocher-Viertel ist derzeit vielleicht der trendigste Spot der Schweiz und sicher eine Reise wert. Wo einst Industrien dampften, ziehen derweil Kreative und Hipster ein. Doch die reichste und teuerste Stadt der Welt hat auch eine Kehrseite: prekäre Lebensrealitäten.
Daher bietet der Verein Surprise, der sich um Obdachlose und Menschen am Rand der Gesellschaft kümmert, Stadttouren mit einem sozialen Blickwinkel an. Die sechs unterschiedlichen Touren gehen der Frage nach, wie man als mittelloser Mensch in der Luxusstadt lebt.
Klar ist: Die sozialen Stadtführungen gehen unter die Haut – brauchen vielleicht auch etwas Mut. Die Thematik ist nicht für jedermann, empfiehlt sich aber für Menschen, die nach einer speziellen Stadtführung suchen. An diesem Abend zeigen Hans Rhyner (63) und Ruedi Kälin (58) die Stationen ihres Lebens: die Strassenküche Speak-out, der Caritas-Markt für vergünstigte Lebensmittel oder das Ambulatorium, wo Bedürftige kostenlos medizinisch behandelt werden. Orte, versteckt inmitten von Zürichs touristischen Hotspots. Ein Kontrast, der aufwühlt.
Der vielleicht eindrücklichste Ort der Führung ist auch der unscheinbarste: ein Patio oberhalb der Uraniastrasse, nur wenige Meter von der Bahnhofstrasse entfernt. Es ist zugig, der Autolärm knattert, Menschen huschen vorbei. «Das hier ist ein Schlafplatz für Obdachlose», erzählt Ruedi, der sieben Jahre auf der Strasse gelebt hat. «Das Gebäude gehört der Kirche, deswegen darf die Polizei die Obdachlosen nicht verscheuchen.»
Allerdings gelten hier strenge Regeln: «Man darf hier zwar übernachten, aber am nächsten Morgen muss man verschwunden sein, ohne Müll liegen zu lassen», ergänzt Hans. Neben den gezeigten Orten sind es vor allem die Begegnungen mit den Menschen, die beeindrucken. Ruedi und Hans erzählen vom Abstieg und den Kampf zurück in ein geregeltes Leben.
Die Schicksale berühren, ebenso wie die unerwartete Grosszügigkeit. Als wir an der Tram-Haltestelle kein Kleingeld für ein Billett finden, zückt Ruedi sein Portemonnaie. «Soll ich dir was geben?» Ein schönes und zugleich eindrückliches Erlebnis.
Bern
Blog der Stadtfüherer Beatrice Lang mit Insider-Tipps: berninside.ch
Die Duftwelt von Brigitte Witschi: artofscent.ch
Zürich
Soziale Stadtführungen werden auch in Basel angeboten.
Bern
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Soziale Stadtführungen werden auch in Basel angeboten.